Von der Bi+-Community klauen, das fällt schon keinem auf!
Ich war Fan eines queeren YouTubers, der sich als großer Plagiator entpuppte, sich u.a. bei der Bi+-Community bediente und dabei auch noch Bisexualität unsichtbar machte.
In meinem BiJou-Artikel über die erste Bi+ Pride in Hamburg 2021 habe ich ein Video über queere Repräsentation in Videospielen des kanadischen YouTubers James Somerton referenziert und online in diesem Blog verlinkt. Eigentlich war das Video mehr als ein Link – es hat mich zu dem Artikel inspiriert, vor allem die darin enthaltene These: Queere Repräsentation ist wenig wert, wenn sie für Menschen außerhalb der Community leicht zu ignorieren ist.
Warum wärme ich das jetzt wieder auf? Im Dezember 2023 ist James Somerton innerhalb der YouTube-Welt zum Bösewicht des Jahres geworden, nachdem ihn ein anderer YouTuber hbomberguy in einem fast vierstündigen Video entlarvt hat: James Somerton hat buchstäblich alles nur geklaut. Die Mehrheit seiner Videos, die er inzwischen auf „privat“ gestellt hat, waren Plagiate, Wort-für-Wort-Rezitationen aus Büchern und Artikeln. Die Autor*innen hatte er nie um Erlaubnis gefragt, Zitate nicht kenntlich gemacht, meist hat er ihre Namen nicht ein mal erwähnt oder sie nachträglich in der Videobeschreibung ergänzt, wenn er mal aufgeflogen ist. Wer Lust auf YouTube-Drama hat: Hier ist das vierstündige Video. Wer nicht so viel Zeit aufopfern möchte: Hier ist eine Zusammenfassung von Pink News.
Der Fall beschäftigt mich, ich hing da tagelang drin fest, da ich ein großer Fan von Somerton war. Meine Freundin und ich haben uns auch schon mal verabredet, um zusammen „den neuen Somerton“ zu gucken, wenn er ein neues Video hochgeladen hat.
Was mich aber am meisten verblüfft hat: Sein Video zu queerer Repräsentation in Videospielen ist eine billige Kopie eines anderen Videos, „The Gay Button: How Bisexuality Changed Video Games“ von verilybitchie, einem YouTube-Channel der in Slowenien lebenden Brit*in Verity Ritchie und ihrer Mitstreiterin Ada Černoša.
In diesem Fall hatte Somerton das Skript nicht Wort für Wort übernommen, sondern versucht zu verschleiern, dass er große Teile daraus ohne nennenswerte eigene Recherche kopiert hat. Ich weiß das, weil das Duo hinter verilybitchie in einem Podcast ziemlich überzeugend darstellt, warum die inhaltlichen Parallelen kein Zufall sein können. Er verwendet zum Beispiel für den Diskurs sehr unübliches Vokabular, so als versuche er zu vermeiden, dass durch das Googlen eines Fachbegriffs, Menschen auf die tatsächliche Quelle stoßen könnten. Das wäre laut verilybitchie in etwa wie über Rollenspiele zu schreiben, aber anstatt „Roleplaying Game“ ein albernes und ausgedachtes Wort wie „People Pretending Game“ zu benutzen. Außerdem hat verilybitchie das Video-Essay aus der Motivation heraus gemacht, den akademischen Diskurs über LGBTIQA* in Videospielen, einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Es gab kaum Videos zu diesem Thema auf YouTube – da fällt es natürlich besonders auf, wenn es plötzlich zwei verdächtig ähnliche gibt.
In Somertons Video ist Bisexualität höchstens eine Randerwähnung. Im Originalvideo ist Bisexualität das zentrale Thema. Er hat also nicht nur von einem damals deutlich kleineren Channel geklaut, der hauptsächlich Videos über Bi+-Themen macht, sondern es auch noch geschafft, Bisexualität komplett unsichtbar zu machen. Da ist es irgendwie ironisch, dass ausgerechnet dieses Video als Referenz in meinem BiJou-Artikel über die Wichtigkeit von unmissverständlicher, konfrontativer bisexueller Sichtbarkeit gelandet ist – einem Artikel über die Bi+ Pride!
Diese Dreistigkeit ist wahrscheinlich der Grund, warum mich das Thema nicht loslässt. Aber es ist nicht nur das. Mich regt auch auf, dass er wahrscheinlich davon ausging, ewig ungestört mit Plagiaten davonzukommen. Seine Wertschätzung für queere Autor*innen und Journalist*innen scheint so gering zu sein, dass er dachte: Das fällt keinem auf. Die Bi+-Community, ach, die ist so klein und unbedeutend, das fällt schon niemandem auf! Das ist für jemanden, der sich als Sprachrohr der LGBTIQA*-Bewegung inszeniert hat, schon eine Leistung. Betroffen sind auch sehr marginalisierte Communitys wie trans Autor*innen of Color, deren persönliche Artikel er plagiierte und die wahrscheinlich nur ein kleines Honorar für die ursprüngliche Veröffentlichung bekommen haben. Währenddessen konnte er von seiner YouTuber-Karriere gut leben.
Das einzig Positive, was ich für mich hier rausziehen kann: Ich habe jetzt den Channel verilybitchie gefunden und kann ihn euch, wenn ihr gut Englisch versteht, nur ans Herz legen. Ein paar mal dachte ich beim Zuschauen: Das ist der Bi+-Content, auf den ich gewartet hab! Wir brauchen mehr solche Videos und solche Auseinandersetzungen über Bisexualität, auch auf Deutsch! Dieser Channel geht wirklich in die Tiefe, untersucht internalisierte Bifeindlichkeit, Bi+-Aktivismus in den 70ern, die „Bi vs. Pan“-Debatte, das Phänomen „Bisexual Chic“ in den Nullerjahren, Bisexualität in Reality-Shows … Darüber hinaus gibt es auch etliche Videos über Trans*, lesbische Sichtbarkeit, Feminismus, queere Repräsentation in Film und Fernsehen usw.
Ich präsentiere hier mal meine Top 5 Video-Essays von verilybitchie. Und damit hoffe ich, dass der Spuk nun vorbei ist und ich nicht länger über James Somerton nachdenken muss.
1. Why Queer TV is Getting Worse
Ein Video-Essay über weichgespülte Feel-Good-Repräsentation von Bisexualität und Queerness im Fernsehen, gefloppte Bi+-Serien und darüber, wie spannende bisexuelle Narrative aussehen könnten.
2. Internalised Biphobia
Name ist Programm: Ein Deep-Dive ins Thema internalisierte Bifeindlichkeit, also das Phänomen, wenn bi+- und pansexuelle Menschen bifeindliche Vorurteile gegen sich selbst richten oder sich nicht „queer genug“ fühlen.
3. The Plastic Feminism of Barbie
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Barbie-Film. Das Video geht u.a. darauf ein, wie feministische Bewegungen und Ideen durch die Vereinnahmung des Mainstreams ihre politische Schlagkraft verlieren.
4. Bisexual Activism in the 70s: The San Francisco Bisexual Center
Video-Essay über die bisexuelle Bewegung in den 1970ern in San Francisco, über die Probleme mit Bisexual Erasure innerhalb der schwul-lesbischen Community und welche Rollen damals Sexpositivität und Androgynität für das bisexuelle Selbstverständnis spielten.
5. The Bi-Cycle (and Why It’s So Confusing)
Über fluktuierendes Begehren, warum sie eine Bedrohung für Monosexuelle darstellt und welches radikale Potenzial sich dahinter verbirgt. Das Video geht u.a. auf Kenji Yoshinos Überlegungen ein, zu denen ich hier schon mal gebloggt hab.
Links:
- Bi Plus Pride in Hamburg: bipride.de
- BiJou, bisexuelles Journal: bine.net/bijou