Was ist Bisexual Erasure? (Nach Kenji Yoshino)

Was ist Bisexual Erasure? (Nach Kenji Yoshino)

5. März 2018 3 Von Herzbrille

Gestern hat der Bi-Aktivist Peter Herold eine Statistik über den Anteil Bisexueller/nicht-monosexueller Menschen in der queeren Community auf Twitter geteilt. Die Statistik bezog sich auf LGB-Menschen – also eine Abkürzung für Lesben, Schwule und Bisexuelle. Eine Twitter-Userin antwortete darauf: Das würde ja bedeuten 52% der Homos („gays“) sind halbe Heten („half straight“)!

Tweet zum Anteil Bisexueller unter LGB-Menschen und die bifeindliche Antwort darauf

Was ist an dieser Antwort problematisch?
1. Sie sind keine Homos – Bisexualität existiert.
2. Sie sind keine halben Heten – Bisexualität existiert.

Ich nutze diesen Anlass als Gelegenheit, um zu teilen, was ich bei Kenji Yoshino über Bisexual Erasure (oder Bi-Erasure) gelernt habe. Allgemein bezeichnet Bi-Erasure die Unsichtbarmachung von Bisexualität. Kenji Yoshino ist ein Jurist und Professor aus New York, der sich auf Verfassungsrecht, Menschenrechte und Antidiskriminierungsgesetze spezialisiert hat.

In seiner Arbeit „The Epistemic Contract of Bisexual Erasure“ aus dem Jahr 2000 unterscheidet Kenji Yoshino drei verschiedene Formen von Bi-Erasure: Class Erasure, Individual Erasure und Delegitimation.

1. Class Erasure

Der Antwort-Tweet ist ein gutes Beispiel für Class-Erasure: Bisexualität als Kategorie wird nicht anerkannt. Die Person macht aus LGB „Gays“ und aus bisexuell „half-straight“ – alles erscheint plausibler als die Kategorie „bisexuell“. Aus Class Erasure erwächst die Vorstellung, Bisexuelle seien in Wahrheit homo oder hetero.

Ich verstehe die Behauptung, dass „in Wahrheit alle bisexuell“ seien aber auch als Class Erasure: Wenn in Wahrheit alle bi+ sind, gibt es keinen Grund, wozu die Kategorie „bisexuell“ existieren sollte. Das bedeutet also auf bifeindlich: Muss nicht ernst genommen werden.

2. Individual Erasure

Individual Erasure entsteht, wenn zwar die allgemeine Existenz von Bisexualität anerkannt, jedoch bestimmten Personen abgesprochen wird zu dieser Kategorie zu gehören: „Ja, es gibt Bisexuelle, aber du bist keine*r! Du hast zu wenig Erfahrungen, du bist zu verwirrt, du willst doch bloß chic sein.“ usw.

Nach der Logik gibt es in irgendeiner ominösen Dimension die „richtigen Bisexuellen“, die keiner wirklich kennt und die als Strategie dienen, um Leuten in ihre Selbstbezeichnung reinzuquatschen. Hast du jemals den Impuls verspürt jemandem das Label „bisexuell“ abzusprechen, weil dir an ihrer*seiner Art Bisexualität auszuleben etwas nicht gepasst hat? Zum Beispiel Frauen, die mit Männern zusammen sind und nur an Dreiern mit anderen Frauen interessiert sind? Ja? Das ist Individual Erasure.

Wenn du eine Frau bist, die andere Frauen datet und am liebsten ohne Männer-Anhängsel, darfst du es natürlich nervig finden von diesen Bi-Frauen auf Tinder angeschrieben zu werden. Das verstehe ich ziemlich gut. Aber diese Bi-Frauen sind trotzdem bisexuell, wenn das ihre verdammte Selbstbezeichnung ist!

3. Delegitimierung

Unter Delegitimierung von Bisexualität versteht Kenji Yoshino, dass zwar die Existenz der sexuellen Orientierung und die Existenz von bi+ Personen anerkannt, aber mit einem Stigma belegt wird, wie Untreue, fehlende Loyalität, Übertragung von Geschlechtskrankheiten (und was sonst alles zu Slutshaming dazu gehört). Bisexualität als Symptom für psychische Krankheiten zu werten (was bei Diagnosen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung gemacht wurde) ist ebenfalls eine Form der Delegitimierung .

Besonders ironisch wird das Thema psychische Gesundheit in Anbetracht der hohen Zahlen von Bisexuellen mit psychischen Krankheiten: Nein, meine Orientierung ist kein „Symptom“, aber vielleicht ist genau bei dieser Bifeindlichkeit die Ursache für einige meiner psychischen Probleme zu suchen?

Die Delegitimierung von Bisexualität hängt auch mit Homofeindlichkeit zusammen, schließlich wird in dieser Gesellschaft alles abgewertet, was nicht der Heteronorm entspricht. Aber das ist nicht der einzige Grund: Dass Bisexuellen Zerrissenheit, Unreife, Promiskuität oder Verwirrtheit unterstellt wird, ist ein wesentlicher Teil davon.

Ich finde Kenji Yoshinos Beobachtungen sehr interessant, um bifeindliche Mechanismen besser zu verstehen. „The Epistemic Contract of Bisexual Erasure“ ist aber ein weitaus komplexeres Werk und dieser Blogpost nur ein klitzekleiner Bruchteil seiner Erkenntnisse. Man merkt am Sprachstil, dass er Jurist ist – es ist also keine leichte Kost, aber definitiv einen Blick wert!


Links und Lesetipps


Dieser Beitrag war ursprünglich ein Twitter-Thread, den ich für meinen Blog redigiert und in Teilen umgeschrieben sowie verlängert habe. Den Twitter-Thread findet ihr hier.