Ein mal Grufti, immer Grufti – nur politischer!
Als Teenie war ich Goth und erfüllte womöglich jedes Klischee. Später zog ich mich aus der „Schwarzen Szene“ zurück, weil ich die Rechtsoffenheit in einigen Kreisen nicht unterstützen wollte. Doch dann entdeckte ich Goth-Revival-Bands und politische Gruftis und beschloss: Ich will mitmischen statt mich zurückziehen!
„Du willst also Goth sein, hm? Nenne einen Goth-Song!“
Als Teenie war ich nicht nur Goth, ich war die Sorte Goth, die sich mit Clownsschminke bleicher geschminkt hat und mehrere Lagen schwarzer Spitzen-, Rüschen- und Samtkleider übereinander trug. Schuld war keine Goth-Band, sondern Evanescence. Und HIM. Vor allem HIM. Zu behaupten ich sei in Ville Valo verknallt gewesen wäre eine Untertreibung. Es waren die Nullerjahre, okay?
In der siebten Klasse nannte mich jemand Goth und ich nahm das Label sofort an ohne den Hauch einer Ahnung zu haben. Mein Papa, der olle Punk, hat bloß den Kopf geschüttelt: „Du willst also Goth sein, hm? Nenne einen Goth-Song!“ Da ich an dem Test kläglich scheiterte, gab mir mein Vater Nachhilfe-Unterricht: Er zeigte mir Joy Division und Bauhaus. Meine 14-jährigen Millennial-Ohren wussten überhaupt nicht, was die Musik von mir wollte. Aber mit Sisters of Mercy konnte ich was anfangen.
Und so wurde ich Teil der Schwarzen Szene und es war ziemlich lange a thing für mich. Ich schrieb düster-romantische Gedichte, stand auf Tim Burton und der Spaziergang zum Friedhof gehörte zu meiner Selfcare-Routine. Um ein weiteres Klischee zu erfüllen: Mein Lehrer hatte mal in einem Gespräch unter vier Augen angemerkt, dass ich das Patschuli-Level ein wenig runterschrauben könnte.
Die Nullerjahre, die Zeit der Glühwürmchen
Streng genommen war ich ein „Poseur“, denn ich habe es geschafft ein Jahrzehnt in der Szene zu verbringen ohne je was von Specimen oder The March Violets gehört zu haben. Das lag daran, dass ich mein Wissen aus Musikzeitschriften wie Orkus und Sonic Seducer zog und die konzentrieren sich logischerweise weniger auf die 80er und 90er, sondern mehr auf neue Veröffentlichungen. Und in den Nullerjahren, das ist kein Geheimnis, war Goth-Rock-technisch eher wenig los. Es war die Zeit des Alternative Metals, des Aggrotechs und der Glühwürmchen. Aber auch Deine Lakaien waren groß in der Zeit und wurden zu meiner Lieblingsband. Als ich erfuhr, dass der Deine-Lakaien-Sänger Alexander Veljanov Deutsch-Mazedonier ist, bin ich völlig durchgedreht. Ich hatte plötzlich ein postmigrantisches Vorbild! Und dank Veljanovs Solo-Album „Porta Macedonia“ wussten immerhin ein paar Alman-Gruftis neuerdings, wo Mazedonien liegt.
Goth ist unpolitisch? Ohne mich!
Ab 2012 begann mich die Schwarze Szene ein wenig zu langweilen. Aber distanziert habe ich mich erst nach dem WGT 2013. An jeder Ecke hörte ich wie sich Leute über Feminismus, Anti-Rassismus und die LGBTI-Community aufregten, wie sie SS-Uniformen als Teil eines Goth-Outfits verteidigten und jede Band aus dem rechten Spektrum als „provokativ“ oder „ironisch“ relativierten. „Goth ist unpolitisch!“ war die Parole und die konnte ich nicht unterschreiben. Nicht nur, weil ich finde, dass das einseitig, undifferenziert und falsch ist, sondern auch, weil ich der Meinung bin, dass diese Haltung nur dazu dient rechte Tendenzen in der Szene zu verschleiern. Ich könnte das unpolitischste Stricktreffen des Jahrhunderts organisieren und würde trotzdem Nazis rausschmeißen, falls welche kämen. Die Frage ist nicht, ob Goth „dem Wesen nach“ politisch ist, sondern, ob man als Community Nazis tolerieren will oder nicht. Den Raum für solche Auseinandersetzungen fand ich in dieser Szene leider nicht.
Also verabschiedete ich mich. Jetzt waren meine Haare pink und statt mehrerer Lagen Spitzenkleidung trug ich mehrere Lagen Leopardenmuster übereinander. Ich hörte Riot-Grrrl-Punk und Peaches und war hauptsächlich in der queer-feministischen Szene unterwegs. Dort traf ich oft Ex-Gruftis, die sich ebenfalls aus politischen Gründen aus der Szene zurückgezogen haben.
Die Goth-Renaissance mit She Past Away, Lebanon Hanover und Co.
Alles änderte sich als mich meine Partnerin vor zwei Jahren gebeten hatte eine Batcave-Playlist für ihre Halloweenparty zu erstellen. Während ich mich durch’s Goth-Universum auf Youtube klickte, hatte ich zwei Erkenntnisse:
1. In meiner Goth-Teenie-Zeit sind so unglaublich viele Classics völlig an mir vorbeigegangen, wie Gene Loves Jezebel, Death Cult, Skeletal Family, Virgin Prunes, And Also The Trees oder die bereits erwähnten Specimen und The March Violets. Das wollte ich jetzt nachholen.
Und 2. Goth-Rock und Darkwave erleben seit ein paar Jahren mit Bands wie She Past Away, Lebanon Hanover, Light Asylum, Selofan, Sixth June oder Angels of Liberty eine Renaissance und das hatte ich überhaupt nicht mitbekommen! Die Goth-Revival-Bands stehen offen zu ihren Einflüssen aus den 80ern, trauen sich Genre-Grenzen zu überschreiten und kleiden den Postpunk und Darkwave in ein modernes Gewand. Sie haben bewiesen, dass Goth entgegen der Behauptungen vieler Musikjournalist*innen, noch lange nicht tot ist.
Innerhalb kürzester Zeit war mein Kleiderschrank wieder düster-angehaucht, allerdings weiterhin mit viel zu viel Leopardenmustern und ohne die viktorianisch-inspirierte Kleidung, die ich einfach nicht mehr sehen kann. Goth-Klassiker wie „Only Theatre of Pain“ von Christian Death oder „Ghost Dance“ von Death Cult liefen bei mir in Dauerschleife und für die Revival-Bands wie Lebanon Hanover hatte ich direkt Konzertkarten organisiert. Doch ich entdeckte auch noch etwas anderes: Die USA-basierte Online-Goth-Community.
Da sind sie, die politischen Gruftis!
Diese Community schien viel offener für politische Themen zu sein. Meine Vermutung ist: Das liegt daran, dass es in den USA viel normalisierter und üblicher ist über Rassismus zu sprechen. Das bedeutet nicht, dass die Kacke da weniger am dampfen ist, sondern lediglich, dass historisch-bedingt eine andere Diskurskultur herrscht. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Death Rock in den USA zuhause und stärker im politischen Punk verankert ist? Aber das ist nur Spekulation. In dieser Community scheint die Bereitschaft jedenfalls höher zu sein über den Elefanten im Raum zu sprechen. Ich bin großer Fan von dem Podcast „Cemetery Confessions“ und empfehle ihn allen Goths weiter, die gut Englisch verstehen und sich nach kritischen Auseinandersetzungen mit der Subkultur sehnen. Der*die Host Count hat mit verschiedenen Gästen, darunter Betroffenen und Expert*innen, schon über Sexismus im Industrial/EBM und über rassistische Ausschlüsse in der Szene gesprochen, weniger bekannte Schwarze Goth-/Postpunk-Musiker*innen empfohlen (z. B. Scary Black und Special Interest), trans Personen den Raum gegeben über ihren Zugang zur Subkultur zu sprechen und in einer Episode versucht eine Antwort auf die Frage zu finden: Ist Goth politisch? (Spoiler: Es ist kompliziert.) Aber auch, wenn er*sie gerade nur ein neues Album rezensiert oder sich mit dem Co-Host über die Anfangszeit des Batcaves unterhält – es ist ziemlich erfrischend mitzubekommen wie viel Reflexion, Commitment und nerdiger Enthusiasmus in diesem Projekt stecken.
Mitmischen statt zurückziehen
In gewisser Weise hat mich der Podcast, zusammen mit dem musikalischen Goth-Revival und anderen Diskursen aus der Online-Community, ermutigt mich dieser Subkultur erneut zuzuwenden. Anstatt mich zurückzuziehen, möchte ich jetzt mit der Szene interagieren und die politischen Diskussionen anstoßen. Vielleicht kann ich mit anderen Leuten ein Zine veröffentlichen? Die „Gruftis gegen Rechts“ wiederbeleben? Mich mit den Leuten vom DIY-orientierten „Gothic Pogo Festival“ zusammentun? Dunja Brill zum Thema Geschlechterverhältnisse in der Schwarzen Szene interviewen? Über die queere Postpunk-/Gothszene mit Musiker*innen wie Petra Flurr berichten? Oder alle daran erinnern, dass Love Like Blood einen anti-rassistischen Goth-Rock-Song geschrieben haben, den man mal mehr appreciaten könnte? 😉 Es gibt so viele Möglichkeiten! Und ich bin so enthusiastisch und nerdig wie noch nie!
Du hast nichts vom Goth-Revival mitbekommen? Dann schau dir meine Playlist an. 🙃 Zum Schluss habe ich eine Empfehlung für eine Postpunk-Revival-Band, die mich ziemlich beeindruckt hat: Whispering Sons aus Belgien.
Ich habs sogar mittlerweile geschafft, 15 Jahre in der Szene zu verbringen, ohne auch nur eine Spur von diesen alten Bands zu kennen. Das liegt einfach daran, daß ich die endsiebziger bis endachtziger für die schlimmste Zeit halte, in der Musik produziert wurde. Ich bin nämlich Mitte vierzig und drin aufgewachsen. Die 80er Jahre Stücke hören sich in der wiedervorlage billigst produziert an. Und da ist es völlig egal, welche Musik man sich anhört. Sogar die 80er Scheiben der Rolling Stones hören sich endscheisse an. Es war ein Jahrzehnt der Rückkehr der Spießigkeit und der uniformität. In den 80ern huldigte man den konservativen 50ern und in Filmen wie „zurück in die Zukunft“ rannte ein braves Bübchengesicht wie Michael J. Fox mit chicen Haaren in 50er Jahre College Jacke rum.
In den 80ern habe ich lieber die Musik der 60er und 70er gehört, Also Hendrix, Joplin, Bob Marley, Pink Floyd, The Doors. Nach dieser Zeit waren die 80er einfach nur noch Mega peinlich. Wenn ich heute die Elder Goth leute in den Classic Areas der Clubs herum wanken sehe, in ihren lächerlichen Klamotten mit den lächerlichen Tanzmoves, weiß ich nicht, ob ich lachen oder weinen soll.
Interessant wurde es erst wieder Ende der 80er, als die Jugend die Schnauze voll hatte von glattgebügelten Bands. Da kam ein Kurt Cobain, Soundgarden, die Cranberries, Stone Temple Pilots und andere, die plötzlich wieder rockiger, punkiger daher kamen.
Leider hielt das auch nur ein paar Jahre an, und nach dem verschwinden des Grunge gabs dann wieder nur noch langweiligen Einheitsbrei. Mitte der nullinger Jahre schlenderte ich also gelangweilt nach etlichen Jahren mal auf eine gemischte Party. Oh, und ich war überrascht. 2005 war großartig. Es gab die wild mit den Armen wedelnden Hardcorer, Emos, die Gruftis hatten irgendwie überlebt, genau wie die Metaller. Und dann sah ich das erste mal junge Leute, die auf das „Glühwürmchen“ Zeug tanzten. Diesen neuen, erfrischenden „Industrial dance“. Das war auf irgendeinem langsamen Combichrist oder Suicide Commando Stück. Und da wars um mich geschehen. Diese Musik, dieser Tanzstil, diese Outfits. Sie verkörperten perfekt die heraufziehenden Zeiten nach dem „Ende der Spaßgesellschaft“ nach dem 11. September. Ein Amerika unter Bush, das die Bürger immer mehr überwachte, wie in einem SF Film. Wo es plötzlich eine „Heimatschutzbehörde“ gab, die beklemmend an die Bücherverbrenner aus „Fahrenheit 451“ erinnerte. Und diese Bands wie Tactical Sekt oder FGFC thematisierten die beklemmung der damaligen Zeit. Leider von den Gruftis völlig ignoriert.
Seitdem bin ich dort zuhaus. Ja, es gibt noch ein paar Glühwürmchen, aber die waren nie Tänzer. Die haben halt auch auf der Tanze rumgestanden, das wars. Und der Rest der Goth Szene hat nie begriffen, was das überhaupt ist. Sie verplemperte ihre Zeit lieber damit, Glühwürmchen so lange zu mobben, bist sie aufgaben und abhauten. Oder damit, junge Szeneanfänger mit ihrem alten Mist zu indoktrinieren. Und heute gibt es mittzwanziger, die so tun und aussehen, als wären sie in den 80ern aufgewachsen, wie ich. Auch das sieht meist megalächerlich aus.
Die Aggrotech/Hellectro Welle war das letzte an Innovation, was diese Szene gesehen hat. Danach wurde Ende der nullinger wieder auf Synthpop Mist umgeschwenkt. Das Ergebnis sieht man heute: Parties und Clubs sterben, und auf den Festivals werden die immer gleichen Bands herum gereicht. In unseren leeren Clubs rennen ü40er rum und ihre Alterskollegen stehen hinter dem Pult.
Daß es auch anders geht, beweist die nicht totzukriegende Techno Community. Ein Bootshaus in Köln z.B. platzt aus allen Nähten, und da gibts so gut wie keine alten Säcke wie mich. Fragt sich also, was man an unserer Szene endlich mal ändern müßte.
übrigens: die Emos und Cybers waren die letzte Jugendkultur. Ist dir schon mal aufgefallen, daß es seitdem nie wieder was gab? Das ist jetzt mittlerweile 15 Jahre her.
Da stellt sich doch die Frage, ob man das alles nicht schützen sollte. Vor dem verschwinden. Ich persönlich vermute ja, daß das alles aus einem Mangel an Generationenkonflikt heraus kommt. Die geilsten und wildesten Jugendkulturen der 50er – 70er entstanden doch da, wo ein Sohn sich mit dem Vater geprügelt hat, und sich dann erst mal verpisst hat. Unverstanden und wütend auf den Status quo. Und dann kam auch das politische Interesse.
Ich lasse die Grufti Bands der 80er da liegen, wo sie hingehören. In den 80ern. In der Wiedervorlage klingen sie eh lächerlich. Und bedenkt man, wer damals am oberen Ende der Musiker war, dann merkt man erst, wie drittklassig die wirklich waren. Denn selbst eine Tina Turner oder ein Phil Collins, Sogar ein Sting – sie alle überragen eine Soiuxsie, The Cure oder die Sisters um Meilen. Das geht mir übrigens beim Industrial genauso. Da werden Bands wie Throbbing Gristle in den Himmel gehoben. Für mich sind das Idioten, die sich so anhören, als hätten Pink Floyd ihre Instrumente die Treppe hinunter geschmissen.
Vielleicht solltest du mal die Musik wieder raus kramen, die dir zuerst gefallen hat. Beende den Abnabelungsprozeß und gehe deinen eigenen Weg. Ohne die alten, in der Wiedervorlage hoffnungslos überbewerteten Bands. Denn wenn man sich immer weiter entlang hangelt zu den „wahren“ Roots – dann ist man eines Tages bei Bach, Beethoven und Mozart.
Ich persönlich wurde übrigens nicht durch eine Goth Community politisiert, sondern durch ganz banale Friedensdemos. Dafür mußte ich nicht in US Foren herum gucken, sondern nur vor meine Haustür. Aber ich stelle auch fest, wie erschreckend desinteressiert die Gruftis heute sind. Ich denke, wenn Leipzig einen AfD Bürgermeister bekommt und das WGT in Gefahr ist, und Gruftis in den Straßen verhauen und gemobbt werden zwischen Kiel und Konstanz – DANN werden sie was merken. Aber dann ist es vielleicht schon zu spät.
Aber es gibt Hoffnung. Und endlich mal wieder einen erfrischenden Generationenkonflikt. Fridays for Future rüttelt die Welt der erwachsenen durch, und Greta wird heute so gehaßt von der Elterngeneration, wie Elvis oder damals die Beatles, die „die Jugend verführten“ 😀 … Insofern: wir sehen spannenden Zeiten entgegen.
Hey Peter, vielen Dank für den langen Kommentar und die ausführlichen Einblicke in deine Szene-Erfahrungen und Wahrnehmungen. Du magst sicherlich Recht damit haben, dass die Politisierung, der Generationskonflikt und die dringend nötige anti-rassistische Bewegung nicht bei den Gruftis stattfinden wird. Sicherlich stimmt es, dass viele Goths in Deutschland desinteressiert sind, was Politik angeht… umso erfrischender fand ich es als ich das Gegenteil in der US-Szene gefunden habe. Ich mache mir da keine Illusionen – für meinen Aktivismus ist nicht die Goth-Szene im Mittelpunkt. Wenn ich eine progressive Bewegung suche, werde ich woanders fündig werden. Die Goth-Szene ist eher ein Teil meiner subkulturellen Zugehörigkeit, mein subkulturelles Zuhause quasi, in das ich politische und progressive Inhalte reintragen möchte – denn diese waren schon immer ein Teil der Szene, auch wenn sie der 08/15-WGT-Goth ignorieren möchte. 😉
Ich habe noch nie die Musik verleugnet, die mir zuerst gefallen hat. Ich stehe voll dazu, dass ich HIM und Evanescence als Babybat geliebt habe… und „Venus Doom“ von HIM ist ein verdammt gutes Album, das finde ich auch immer noch! Aber na ja, auch Sisters of Mercy und Deine Lakaien habe ich als Teenie geliebt und The Cure begleiten mich seitdem ich 14 bin. Es ist dein gutes Recht 80er Postpunk und Goth überbewertet und schlecht zu finden, aber lass uns anderen doch den Spaß! 😉 „Back to the roots“ wollte ich nicht, um mich „abzunabeln“, sondern, weil ich den oldschooligen Kram tatsächlich mag. Und als ich gesehen habe, wie viele dieser alten Bands ich noch nicht kannte, wollte ich das unbedingt nachholen. Zu viel Nostalgie ist jedoch ungesund, da werden wir uns einig sein. Umso besser, dass so viel neue Goth-Musik darauf wartet entdeckt zu werden!
„Einmal Grufti, immer Grufti“,
das waren genau meine Worte mit denen ich mich vor gut 20 Jahren vom Schwarzen verabschiedet habe. Und echt lustig, dass diese Diskussionen und nichtkörperlichen Anfeindungen über die Vielfältigkeit in der Szene die gleichen geblieben sind. Selten ist meinereins so ein peinlicher Elder-Gruft und bewegt sich komisch auf der Tanzfläche und wenn dann wieder dunkler Techno, was als neuer Industrial bezeichnet wird, läuft, dann geht er hald von der Tanzfläche. Hey, Gothicsound war schon immer vielfältig und wenn man da alles mag, dann muss man ja völlig gaga in der Birne sein. Obwohl, wenn ich mir da meine Plattensammlung ansehe, hmm, da sind höchstens zwei drei Meter schwarzer Sound und damals habe ich ja noch gar kein Vinyl konsumiert. Okay, kurz gesagt: Musik ist vielfältig, Klamotten sind vielfältig, Gothics sind unterschiedlich, war schon immer so, mir doch egal, bzw. das ist doch auch irgendwie interessant.
Eigentlich gings doch um Politik, oder???
OK, Politik hat auch was mit Musik zu tun, aber dazu später…
Ich war 1993, 1994 und 1996 auf dem WGT – 95 war ich auf irgendeinem Punkfest. Damals gabs natürlich auch schon Armeeklamotten, Naziästhetik und zweideutige Texte. 93 oder 94 hat sich ne italienische Industrialband sogar mit dem Hitlergruß verabschiedet. Gibts heute sowas noch auf der Bühne? Glaube eher nicht.
Aber was soll der ganze Mist? Alles nur getarnte Nazis? Früher sagte ich immer zu meine Punkfreunden: „Biste Schwul und Nazi, musste Grufti werden“ – übrigens, nein, ich bin nicht homophob… Hmm, bringt uns jetzt aber auch nicht weiter… Vielleicht so: Einmal Grufti, immer Grufti. Jeder Grufti ist oder war Gothic. Nicht jeder Gothic ist Grufti.
Häh? – Was redet der da?
OK, ist natürlich ein wenig Eigendefinition, aber was solls!!
Was ist der gemeinsame Nenner von diesen Schwarzen? Naja, ein gewisses Interesse am Tod, ob jetzt passiv oder aktiv – 😉 . Naja, was noch? Melancholie – auch, möglich, obwohl… Faszination am Bösen – bestimmt, muss ja nicht ausgelebt sein. Das Mensch – hmm?
Bei Mensch muss ich irgendwie immer gleich an Neubauten denken, sorry… Oder an diesen Auftritt von der wenig redenden Gruftifrau aus der Gungecartoonserie Daria, Season 1, aus den 90ern.
Aber was mach den Menschen aus? Der Mensch hat Sex, macht Kriege und verkauft kleine überteuerte Plasikglühwürmchen, welche in Nordkorea hergestellt wurden – kurz, der Mensch ist böse, zumindest auch. Nun ja, was hat das jetzt mit Politik zu tun? Eigentlich Alles!
Meiner eins ist ja Grufti, nein, eben nicht Gothic, der zweiten, wenn nicht sogar dritten, Welle. Die erste entstand ja aus der politischen Subkultur Punk. Ihr wisst noch, die Oldskoolpunks mit No Future und so. Da gings um Hass und Wut auf das herrschende System. Um Lösungsansätze wie Extremkommunismus, welcher nicht nur eine Parteiendiktatur ist. Um Anarchie und somit auch um Selbstzerstörung. Ihr erinnert euch, da gabs doch so Eldergruftsound der ach so rechtsradikalen Death in June, Sol Invictus und dieses ganze Neofolkgeraffel. Meine Empfehlung wäre einfach mal deren Bandgeschichten auf Wikipedia nachzulesen. Das System war und ist menschgemacht. Es gibt Probleme, Ungerechtigkeiten und in den meisten Fällen wird das, zumindest weltweit gesehen, nicht besser. OK – und was hat das jetzt mit Gruftis zu tun? Naja, das waren dann die, die erkannt haben, dass egal was man macht, es eh Nichts bringt. Das es böse war und wieder böse werden wird. Hallo, wenn das mal nichts mit Politik zu tun hat. Und das „böse war“ hat natürlich viel, nicht nur, mit der jüngeren Menschvergangenheit zu tun. Da gabs dann so Leute wie mich, welche erst in der Pubertät erfahren, dass diese Nazivergangenheit nicht nur Teil unserer Kultur ist, sondern auch Teil ihrer eigenen Familiengeschichte. Eine gute alte Freundin, eine Elderpunx sozusagen, war und ist düsterer drauf als so mancher Gothic. Die hat aber als Kleinkind auch miterlebt wie ihrem Vater Hunderete unterm Skalpell wegverreckt sind und ihre Verwandtschaft hatte nix besseres zu tun, als diesem komischen kleinen Mädchen das Schießen mit der Maschinenpistole beizubringen. Sie ist übrigens ursprünglich aus Kroatien.
Jetzt gab und gibt es so ach so rechtsradikale Bands wie Front 242 die einem die Bedienung einer Kalaschnikow beibringen . Oder Feindflug, welche Panzer als ästhetisches Mittel in ihren Videos benutzen. Oder Liedtexte wie „Richtig ist es nicht, aber notwendig“ von Wumpscut:. Einmal davon abgesehen, dass dies echter Industrial ist und nicht nur ein auf düster gemachter Bullshittechno, frage ich mich schon, ob dies rechts ist. Nein, eben nicht, zumindest nicht unbedingt. Es ist eine Betrachtung des Inneren des Menschen und deren bösen Auswirkungen. Es ist die Bewusstmachung, dass dies Teil unserer Geschichte ist und leider auch wieder werden wird. Es ist die Verzweiflung, Verbitterung und was weiß ich noch alles, dass der Mensch so ist wie er ist. Ich bin noch ein Kind des Kalten Krieges und obwohl dieser endlich zu Ende war, bin ich Grufti geworden. Meine Eltern sind die letzte Generation, welche als Kleinkinder noch den Zweiten mitgemacht haben. Meine Großeltern haben gleich zwei mitgenommen. Hippies waren Mami und Papi nicht, aber ihren persönlichen Schlag haben sie auch. Verstanden was ein Grufti ist, haben die bis heute nicht. Ja, es gab und gibt Rechtsradikale in der Szene. Meiner Meinung nach schon. Aber nicht jeder der nen Armeemantel trägt und Musik mit zweideutigen Texten hört, ist rechtsradikal. Nur weil man fest davon ausgeht, dass früher oder später sowas wie der Dritte Weltkrieg kommen wird, ist man noch lange nicht Befürworter des Selbigen. Nur weil man davon ausgeht, dass dieses Mensch zu dumm, zu egoistisch, hald allgemein zu böse ist, um das Böse zu verhindern, möchte man das nicht automatisch selbst.
Gruftis sind für mich Beobachter. Sie schauen sich diesen ganzen Wahnsinn an und denken sich ihren Teil. Zu fröhlich gelaunten Trallalamenschen werden sie dabei nicht. Übrigens solche Beobachter gibt es in so manchen Subkulturen, nicht nur in der schwarzen Szene. Ja, das hat was mit Politik zu tun! Diese Naziästhetik gibt es sogar in anderen Musikrichtungen. Mal ein wenig Psychoedelic Rock anschauen. Nein, dass sind nicht nur pilzefressende Pseudometaller. Das mit der Vielfältigkeit ist eh so ne Sache. Für mich war Soundgarden damals Kommerzbullshit. Wäre ich zwei drei Jahre jünger, wäre es nicht so gewesen. Sound verändert sich und wenn du älter wirst, dann magst du hald auch noch das was du früher gehört hast. Hauptsache man hört auch in zwanzig Jahren nicht die Hitparade. Und sorry, mit crystalverseuchten, monotonen Techno habe ich nie was anfangen können, wenn dann bitte gleich 8Bit-Sound. Deshalb hab ich aber noch lange nichts gegen Leute die zwanzig Jahre jünger sind und sich Dark Techno anhören. Ich hab eigentlich nur was gegen die Menschheit. Oder ein Beispiel aus der schwarzen Szene. Die ach so altgediegene SM-Band Umbra et Imago fand ich musikalisch schon vor gut 25 Jahren grottenschlecht. SM ist zwar nicht so meins, aber jeder so wie er will. Und wenn schon SM, dann bitte doch Die Form. Aber das ist hald die schon durchaus interessante Vielfältigkeit.
Zurück zur Politik. Für mich ist Politik nicht nur links und rechts. Sie ist eher wie eine Kugel mit einem Mittelpunkt, welche sich ausdehnen und zusammenziehen kann. Ob sie frei schwebt und wandern kann, weiß ich nicht. Links Rechts ist klar, obwohl da eigentlich gar nix klar ist. Oben Unten ist die Macht. Macht hat selbstverständlich sehr sehr viel mit Geld zu tun, aber eben nicht nur. Nur so zum Beispiel, Kirchen waren und sind immer noch sehr mächtig. Oder warum wird so mancher Geistlicher, welcher kleine Kinder sehr sehr lieb hat, nach wie vor nicht behelligt? Ich war im Laufe der Jahre schockiert wie viele solch behelligter Existenzen sich dann in irgendwelchen Subkulturen desorientiert verkriechen und oft auch noch selbst Kinder in diese Welt setzen. Aber, tut mir leid, ich versteh auch nicht wie man mit seinem Kindelein übers WGT latschen kann. Aber jedem das seine. Und ,dass das mit den Satanisten, welche fröhlich die Jungfrauen opfern, allermeist Blödsinn ist, weiß ich auch. Hmm, Sakrales ist aber schon auch eine Thematik und ästhetisches Mittel der Schwarzen Szene. Politik, also im Sinne der Legislative, des Staates, der politischen Ordnung usw. ist natürlich auch mächtig. Von der vierten Gewalt rede ich jetzt lieber nicht, sonst werde ich hier noch als AFD-Wähler oder Verschwörungstheoretiker beschimpft. Übrigens Verschwörungstheorien sehr wohl auch eine Thematik in der Szene. Und jetzt das Vorne Hinten. Das ist Wissen und Nichtwissen. Oder Naivität, Blauäugigkeit, Trallala und das Wissen, dass der Mensch böse sein kann. Boarleck, wenn mir wiedermal so ein selbsternannter Hippie an irgendeinem Lagerfeuer erklärt, dass wir die Welt noch retten könnten, wir müssten nur daran glauben und uns lieb haben, dann bekomme ich deutliche Würgegefühle und muss mich selbst intensiv daran erinnern, dass ich ein eigentlich friedfertiger Mensch bin. Zum Glück sind nicht alle Hippies so.
Und was zum Teufel hat das jetzt mit der schwarzen Szene zu tun?
Naja, Links Rechts gibt es so direkt nur bedingt, aber eben schon auch. Zumindest nicht jeder der sich rechter Symbolik bedient ist automatisch auch Rechts befürwortend. Der Ursprung des Ursprungs ist auf jeden Fall eher Links. Ob man das als völlig unpolitisch bezeichnen kann, halte ich persönlich für fragwürdig. Aber ja, viele beobachten hald nur und sind sich bewusst, dass sie, zumindest dauerhaft, am Verhalten, am Sein des Menschen, Nichts ändern können. Ob sie darauf mit Wut, Hass und oder Traurigkeit reagieren, ist dann wieder hochgradig unterschiedlich. Übrigens ich persönlich finde Leute, welche das Ende noch ein wenig rauszögern möchten, durchaus sympathisch. Oben Unten ist in der Schwarzen Szene faszinierend. Man hat einfach Alles. Vom gutgetarnten, in schweineteuren Klamotten gekleideten Notar, über die malochende Altenpflegerin, bis zum Hartzler der sich selbst Künstler nennt. Dabei geht es sogar um das eigene Verhalten. Wo platziere ich mich in diesem einen kurzem Leben in diesem Oben Unten? Und die scharfe Schere zwischen Arm und Reich hat sehr wohl etwas mit Politik zu tun! Naja, wenn ich mich da selbst betrachte, dann naja. Geldmäßig habe ich es nur bedingt durchgezogen, aber der von einer auch waffenproduzierenden Firma hergestellte schwarze Kombi in der eigenen Garage ist zwar nicht nigelnagelneu, aber meiner. Und das dunkelgrün lackierte, allradgetriebene, spritfressende Monsterchen Baujahr 1984 steht derzeit noch in ner billigen Scheune bei der Hippiekommune. Nein, ich werde euch jetzt nicht verraten was ich für nen Job habe. Aber die Schwarze Szene hat damals meine Anschauungen schon deutlich mitgeprägt. Wir erinnern uns, Letzte Instanz „Das schönste Lied der Welt“. Vielleicht sollte ich echt das alte verbeulte Ding wieder mal anschmeißen und aufs WGT 2020 fahren und mir den ganzen Plastikschrott an Klamotten anschauen. Mit einem völlig überteuerten, nicht vorhandenen Nachtzug, welcher über durchgerostete Brücken daherbrettert, würde ich in diesem Fall allerdings ausnahmsweise nicht anreisen wollen. Genügend schwarze Klamotten habe ich auf jeden Fall noch. Die weiße Theaterschminke würde ich aber lassen, dafür fühle ich mich einfach zu alt. Und echte Gruftis würde man da auch noch treffen. Guten Sound gäbe es bestimmt, zumindest auch.
Naja, das Vorne Hinten ist eigentlich mit dem Menschbild schon erklärt, wobei dies für mich hald auch einen echten Grufti, und eben nicht nur Gothic, Glühwürmchen oder was auch immer, ausmacht. Oder anders gesagt: Der echte Grufti schwebt für mich irgendwo zwischen Oben und Unten, beäugt kritisch das Links und Rechts, stellt es allerdings auch dar, hat zum Teil auch Meinung und ist aber so weit vorne, dass er schon Angst bekommt, dass die Hinten während seiner Lebenszeit doch wieder die Überhand bekommen. Bin damals selbst mit Schweizer Armeejacke rumgelatscht und gleichzeitig Kriegsdienstverweigerer. Hier vielleicht mal ein Musiktipp zum quälen, aber durchaus politisch und trotzdem lustig. Hört euch mal Falk „Im Biomarkt“ auf YouTube an. Ja ich weiß, der Typ hat ne Vollmaise, behautet, dass er Grufti war und jetzt sollen wir uns Liedermacher anhören…
Wie gesagt, das ist meine Eigendefinition und nach dieser Definition gäbe es sogar Gruftis in anderen Subkulturen und das wäre ja ein Wiederspruch in sich. So ist das allerdings oft mit Definitionen. Meinetwegen streicht ihr auch das Wort „Grufti“ und ersetzt es mit nihilistisch veranlagten Pessimisten der zynisch seine Misanthropie auslebt.
Hey, sorry für dieses ganze Gelaber, aber irgendwann in meinem Leben musste ich auch meinen Senf dazu geben. Wurde die letzten Jahrzehnte einfach zu oft missverstanden. Aber welcher Grufti kennt das nicht? Habe anscheinend eindeutig zu viel Zeit in diesen Coronazeiten! Und das es ausgerechnet deine Plattform wurde, war eher Zufall. Oder selber schuld, nicht mein Problem, schließlich hast du mit Politik in der Schwarzen Szene angefangen.
Grüße in den Wedding, Thyl
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Mich würde als Ex-Grufti ja interessieren: Gibt es inzwischen politisch aktive Gothics, so 20 Jahre später, wo es hier in Deutschland langsam echt ernst wird?
Übrigens nette Playlist. Und der Geheimtipp gefällt mir auch.