Nostalgie eines Migrantenkindes

Nostalgie eines Migrantenkindes

6. August 2014 3 Von Herzbrille
Panorama von Skopje mit Blick auf Millenniumskreuz, Bild: Julian Hacker

Was bedeutet zwischen den Welten zu leben? Zwischen zwei oder mehr Kulturen hin- und hergerissen zu sein? Über bereichernde Aspekte von Bi*kulturalimus habe ich bereits in „Integra-was?!“ geschrieben (gegen Ende). Doch das Leben zwischen den Welten ist oft geprägt von Identitätschaos, Entwurzelung und Einsamkeit. In der wissenschaftlichen Literatur über Bi*kulturalimus werden meist folgende Möglichkeiten genannt, wie Menschen mit Migrationsgeschichte ihren Wurzeln begegnen:

1) ausschließliche Identifikation mit der Kultur des Einwanderungslandes,
2) ausschließliche Identifikation mit der Kultur des Herkunftslandes,
3) Ablehnung beider Kulturen und
4) die Identifikation mit beiden Kulturen

Das sind nur Hilfskategorien, um Tendenzen zu beschreiben, die Realität sieht viel fluider aus. Ich habe jahrelang nicht verstanden, warum Menschen eine der Kulturen oder sogar beide, gänzlich ablehnen, warum sie Identitätskonflikte haben.

Das wird damit zusammenhängen, dass ich weiß bin – oder als weiß passe (durchgehe), denn so muss ich nicht ständig hin- und hergerissen sein: Ich werde nicht ständig an mein Anderssein erinnert. Ich kann oft die „Bio-Deutsche“ spielen, Leuten wahrheitsgemäß sagen, dass ich Urberlinerin bin und wenn die nicht weiter fragen, muss ich meine Migrationsgeschichte nicht einmal erwähnen. Seit ich keinen Akzent mehr habe, ist das noch viel einfacher geworden. Solange meine Migrationsgeschichte also im Privaten bleibt, fühle ich mich in Deutschland zuhause und akzeptiert. Sobald aber Identitätsfragen auftauchen, ich auch die mazedonische Seite leben möchte, wird es schwieriger. Umso älter ich werde, desto häufiger tauchen diese Identitätsfragen auf. Das ist ein sehr innerlicher, leiser Konflikt, den nur meine besten Freund_innen mitkriegen. Wie sieht so etwas aus?

Nehmen wir als Beispiel mazedonische Folklore. Seit frühester Kindheit hat mir mein Vater die verschiedensten Interpretationen von Volksliedern gezeigt. Damals hat mich das herzlich wenig interessiert, doch seit ungefähr vier Jahren steh ich total drauf! Das ist nicht vergleichbar mit der Popularität von deutscher Volksmusik und volkstümlicher Musik. Sie ist in der Alltagskultur viel präsenter, begegnet allen Altersgruppen und Schichten und ihre Bandbreite reicht vom viel belächelten neukomponierten Turbofolk, schlageresken Interpretationen alter Stücke, Ensembles mit traditioneller Instrumentierung, Ethno-Bands, die alte Lieder modern arrangieren, bis zu Verschmelzungen mit Klassik, Jazz, New Wave, Rock, Pop sowieso.

Wenn ich die Musik zuhause höre oder irgendwo, wo das andere mitkriegen, hab ich Angst, jemanden mit diesen „orientalischen“ Klängen zu nerven… denn wer kennt die Kommentare nicht, dass People of Color und Migrantisierte „uns“ ihre Kultur unter die Nase reiben wollen? Damit vielleicht sogar provozieren? Und weiße Linke könnten das womöglich auch noch als Nationalismus verstehen! Das Gefühl mich verstecken zu müssen sitzt im Nacken.

Selbst wenn die Leute cool damit sind: Ich habe ein Bedürfnis nach Austausch, phantasiere davon mit Leuten über Volkslieder um die Wette zu nerden oder, dass Straßenmusiker_innen in der U-Bahn „Jovano Jovanke“ spielen und mir zuzwinkern, wenn sie mich mitsingen hören.
Mein Vater freut sich, dass ich mich „auskenne“, von meiner Mutter kommen meist Kommentare wie: „In was für einer seltsamen Nostalgie-Phase steckst denn du?“ Für sie ist das Nostalgie, für mich die fast einzige Möglichkeit im Alltag meine Zugehörigkeit zu Mazedonien zu leben.

Als meine große Schwester aus Skopje in Berlin war, habe ich ihr erzählt, dass ich gerne mazedonische Folklore höre. Ich zählte all die hoch geschätzten Ensembles/ Ethno-Bands auf: Synthesis, Baklava, Ljubojna, Monistra… Sie hat die Augen gerollt und dachte, ich mache Scherze. „Ernsthaft? Wieso machst du denn so was?“ Für sie ist es unverständlich, warum sich junge Menschen, die nicht mal in Mazedonien aufgewachsen sind, damit befassen.

Als ich das letzte in Skopje war, wurde ich von einem Mann ausgeführt, der deutsch kann und mal in Österreich gelebt hat. Er war den ganzen Abend lang damit beschäftigt, mich aufzuziehen, ich sei ja „sooo deutsch“, so reserviert und viel zu höflich. In dem Restaurant spielte eine kleine Band „starogradski pesni“, urbane Volkslieder, auf Wunsch. Als er schon etwas angetrunken war, fragte er, ob ich denn die Musik mag. Ich bejahte, was er als deutsche Höflichkeit interpretierte, und erklärte mir: „Du bist zu deutsch, du wirst niemals die Seele der Musik spüren!“ Die Seele der Musik. Ich wollte ihn anschreien, dass ich sehr wohl diese „Seele“ spüre, wenn auch anders als er. Ich hielt die Klappe und am Ende war ich sogar dankbar, denn er hat mir deutlich vor Augen geführt, was ich in Mazedonien bin: eine Fremde.

Nur bei meiner Oma war die Reaktion anders. Im Fernsehen lief gerade eine Musiksendung, wir saßen angekuschelt davor und rauchten. Nach einigen Liedern sagte sie: „Weißt du, für uns hier ist diese Musik wunderschön!“. Ich antwortete: „Ich weiß, Oma, ich finde sie auch wunderschön.“ Da wurden ihre Augen groß, sie lächelte und klatschte in die Hände: „Baš mi e drago“, was sich mit „Das freut mich sehr“ übersetzen lässt, nur stärker. Es fühlte sich an, als hätten wir nun eine Ebene mehr, weil ich ihre Musik und somit einen Teil ihrer Identität verstand. Plötzlich war ich wieder das Kind, das sich in Skopje zuhause fühlte.

Das ist ein klassisches Beispiel für einen postmigrantischen Identitätskonflikt: Ein Mensch, der sich nach der Kultur des Herkunftslandes sehnt und deshalb Musik aus dem Land hört. Dafür wird er von beiden Seiten belächelt. In Deutschland ist die Musik „exotisch“ oder nervig. In Mazedonien können die Leute entweder nicht verstehen, warum sich ein Mensch, in der Diaspora groß geworden, so etwas reinzieht. Oder es wird ihm dieses Faible abgesprochen und gleich die Grenze gezogen, dass die Musik nicht für ihn gedacht ist, er sie gar nicht erst verstehen kann.

Zwischen den Welten zu leben bedeutet leider meistens, sich ziemlich einsam und unverstanden zu fühlen. Immer häufiger frage ich mich, wieso ich das nicht einfach aus meiner Identität streiche und auf Mazedonien scheiße. Vielleicht sollte ich nicht länger versuchen mich mit beiden Kulturen zu identifizieren, sondern deutsch werden… oder beides in die Tonne kloppen. Wenn das mal so einfach wäre. Außerdem haben dann die ganzen Integrationsfuzzis was sie wollten!

Lieber nehme ich in Kauf mich einsam zu fühlen und nirgendwo dazuzugehören. Lieber bin ich wütend auf Weißdeutsche mit ihrem blöden Fragen und fragenden Blicken und wütend auf Mazedonier_innen, die mir so gern unter die Nase reiben, dass ich nicht dazu gehöre. Lieber stelle ich mir die Frage, wie ich mit dem Gefühl der Entwurzelung etwas positives machen kann. Diesen Text schreiben, zum Beispiel. Und mir vor allem nicht nehmen lassen, was ich lieben gelernt hab…