Common Ground: Geschichte verbindet

Common Ground: Geschichte verbindet

19. Januar 2015 1 Von Herzbrille
Eine Theaterbühne
Eine Theaterbühne, Bild: Andreas Glöckner

Am Montag habe ich mir ein Theaterstück angeschaut: Common Groundvon der israelischen Regisseurin Yael Ronen, im Maxim Gorki Theater. Fünf Schauspieler_innen, die in den 90ern aus Ex-Jugoslawien nach Berlin gekommen sind, genauer gesagt aus Zagreb, Belgrad, Priboj, Banja Luka und Novi Sad, haben ihre Biografien auf der Bühne vereint. Ihre Kindheit ist von Flucht, Kriegstrauma und Assimilationszwang in Deutschland geprägt. Auf der Suche nach einer gemeinsamen Geschichte, reisen sie nach Bosnien. Mit an Bord sind zwei humoristische Sidekicks: Niels Borman, die Karikatur des Deutschen, der in jedes Klischee-Fettnäpfchen tritt, und die isrealische Konflikttherapeutin Orit Nahmias, die Parallelen zwischen dem Nah-Ost-Konflikt und dem Jugoslawienkrieg sucht.

Ein Mosaik aus Widersprüchen

Das mosaikartige Stück zeigt durch die verschiedenen Perspektiven Widersprüche und Sackgassen auf und stellt Fragen, statt nach Erklärungen zu suchen. Wie kann ein Common Ground“ aussehen, wenn jede Seite, die im Jugoslawienkrieg involviert war, ihre eigene Geschichte schreibt und die Wunden des Krieges noch nicht verheilt sind? Wie geht die jüngere Generation damit um, die den Großteil ihres Lebens in Deutschland verbracht hat?

Los geht’s mit einem Schnelldurchlauf durch die 90er: Im Hintergrund Fernsehausschnitte, Nirvana und Ace of Base dröhnen aus den Boxen, eine Schlagzeile jagt die nächste: Erdbeben, Tennisturniere, Ereignisse in Jugoslawien, Kriege im Rest der Welt, die olympschen Spiele, eingestreut Kindheitserfahrungen der Protagonist_innen, die im Nachrichtenstrom fast untergehen. Die letzte Meldung: „Der Friedensvertrag von Dayton setzt dem Bosnienkrieg ein Ende.“ Musik und Lichter gehen aus: Nur schweres Atmen ist zu hören.

In den Trümmern des Krieges beginnt die Geschichte von der gemeinsamen Bosnienreise. Die Beziehung zwischen Jasmina Musić und Mateja Meded bildet den dramaturgischen Schwerpunkt. Sie lernen sich kurz vorher in Berlin kennen. Beide sind in der Nähe von Prijedor aufgewachsen und finden zufällig heraus, dass sie über ihre Väter verbunden sind: In dem Konzentrationslager, in dem Jasminas Vater Gefangener war, war Matejas Vater eingesetzt. Die Stärke des Stücks liegt in der Verschmelzung von Erzählerischem und Gespieltem: Beide Schauspielerinnen erzählen von ihrem Gefühlschaos nach diesem gruseligen Zufall, während sie die Szene im Café spielen, wo sie sich kennenlernten. Die Parallelen zwischen beiden Gefühlswelten – Angst, Wut, Scham und Empathie für die Lage der jeweils anderen, prallen auf die scheinbare Ausweglosigkeit der Situation. Daraus wächst eine Freundschaft.

Der erste Halt ist Sarajevo. Die Gruppe nächtigt in dem Hotel, in dem Radovan Karadžić sein Quartier hatte. Anschließend reist das Ensemble nach Prijedor, in der heutigen Republika Srpska. Später stehen sie auf einem Schulgelände, das früher ein Konzentrationslager war. In diesen Settings, die allein schon die Ironie des Krieges porträtieren, fügt jede Person Teile ihrer Lebenswelt als Puzzelstück zum Gesamtbild hinzu. Vernesa Berbo beschäftigt sich mit der Frage, wann sie ihren Kindern vom Krieg erzählen soll und stellt während der Reise fest, dass es ihr gut tut, ihre schmerzhaften Geschichten mitzuteilen. Aleksandar Radenković gerät in ein Dilemma, als die Reisegruppe mit einer Überlebenden spricht, die eine Organisation für die Vergewaltigungsopfer im Krieg leitet. Jedes Mal, wenn sie von „den Serben“ oder den „Tschetniks“ spricht, fühlt er sich schuldig und beginnt die Kriegsopfer zu beneiden. Um seine Schuldgefühle zu mildern, denkt er über die Leidensgeschichten auf serbischer Seite nach. Sofort verwift er diese Gedanken, von sich selbst erschrocken: „Wann bin ich zu einer Seite dieses Krieges geworden?“ Auch Dejan Bućin, der sich wegen seiner komplexen Familiengeschichte Jugoslawe nennt, steht nicht etwa über den Dingen, oder kann unvoreingenommener auf die Geschichte schauen, sondern ist Teil des Mosaiks.

Die Erfahrungen, die das Ensemble mit dem Publikum teilt, sind schmerzhaft und roh dargeboten und sie verlangen den Zuschauenden viel ab. Die ehrliche Ergriffenheit, mit der sich die Schauspieler_innen beim Schlussapplaus verneigen, ist berührend – die Grenzen zwischen Gespieltem, Dokumentarischem, Bühne und Realität sind verwischt. Schön, dass sich zeitgenössisches Theater so etwas traut!
Immer wieder wird die bedrückende Stimmung gebrochen, durch Niels Naivität, durch eingestreute Ex-Yu-Rockhits wie „Kreni prema meni“ von Partibrejkers oder das Beleidigungsduell zwischen Dejan und Aleksandar, bei dem der Saal in lautes Lachen ausbricht.

Mein Mosaikstück

Selbstentworfenes T-Shirt: „Integrier dich doch selbst, Kartoffel!“

Selbstentworfenes T-Shirt: „Integrier dich doch selbst, Kartoffel!“

Ich hatte mir vorgenommen eine gewisse Distanz zu dem Stück zu bewahren, denn es geht nicht um mich – ich habe den Jugoslawienkrieg nicht miterlebt. Schnell stellte ich fest, dass ich durch meine Familie mit diesen Narrativen verbunden bin: Ich habe diese Wut schon mal gesehen, ich habe diesen Schmerz in der Stimme schon mal gehört. Ich habe mich plötzlich daran erinnert, wie ich als Kind meiner Oma am Telefon immer sagen sollte: „Ich komm dich besuchen, wenn der Krieg vorbei ist“ und überhaupt nicht wusste, was ich da eigentlich sage. Und schon bin ich mittendrin.

Ich fand viele Überschneidungen mit meinem Leben, die mich überrascht haben: Ich habe mich tatsächlich als Jugo angesprochen gefühlt und das passiert mir extrem selten! Kaum eine Frage, die einen postmigrantischen Menschen beschäftigt, wurde ausgelassen. Da ist Aleksandar, der sich im Identitätskonflikt mit seiner deutschen und seiner serbischen Staatsangehörigkeit befindet und leicht resigniert sagt: „Aber in Ex-Ju sehen mich eh alle als deutsch, also was soll das Ganze?!“ (Check!) Derselbe, der sich dafür schämt, dass ihm die Körpersprache und das Redeverhalten seines Vaters peinlich war, weil das in Deutschland als störend und zu temperamentvoll empfunden wird. (Doublecheck!!!) Da ist Dejan, der sich als Jugoslawe oder Belgrader bezeichnet, weil die multikulturelle Geschichte seiner Ahnen die Frage nach seinen Wurzeln absurd erscheinen lässt. (Wenn man’s genau nimmt bin ich donauschwäbisch-kroatisch-ägäisch-mazedonisch-slovenisch-ungarisch… oder so.) Da ist Mateja, die ignorante Kommentare ihres Lehrers ertragen muss: „Wenn die Leute, da wo du herkommst, alle so sind wie du, dann ist es kein Wunder, dass sich dort alle die Köpfe einschlagen.“ (Siehe Integra- was?!)

Und da ist die Kneipenszene im Hotel, als die Protagonist_innen nicht schlafen können und sich nacheinander in der Bar versammeln. Aus einem Gespräch darüber, dass der Krieg in den Köpfen aufhören muss, bevor wirklich Frieden herrschen kann, entwickelt sich ein Streit. Einer, der in einem Land als Nationalheld gefeiert wird, ist im anderen ein Kriegsverbrecher. Jasmina wird wütend und redet sich in Rage, dass sie am liebsten jeden einzelnen bestrafen würde. Mateja wirft ein: „Wir müssen uns unsere Menschlichkeit bewahren!“ und löst damit einen Wutausbruch bei Jasmina aus.

Ich habe so oft Gespräche mitbekommen, die ähnlich verlaufen sind und kenne die Situation von beiden Seiten: Als mir mein Opa erzählt hat, wie er im griechischen Bürgerkrieg (1946 – 1949) nach Polen vertrieben wurde, hatte ich plötzlich einen Groll auf „die Griechen“. Ich habe dieses Gefühl Freund_innen anvertraut und mich verarscht gefühlt, als diese mir mit „Menschlichkeit“ kamen. Ein anderes mal, hat mir meine Oma erzählt, wie mein Großonkel mit seiner Familie aus dem von serbischen Truppen besetzten Osijek (zwischen 1991 und 1995) nach Zagreb geflohen ist und bin dem Impuls nachgegangen, meine Oma zu korrigieren, als sie von „den Serben“ sprach. Meine Oma hat ebenso emotional reagiert. So falsch wie es ist von „den Griechen“ zu sprechen, so wenig hilfreich ist es, in einer außenstehenden Position, die Täter_innenrolle zu relativieren. Es hat sich ehrlich angefühlt, das so auf der Bühne präsentiert zu sehen, stehengelassen, nur mit einem Fragezeichen dahinter.

Niels bildet für mich, obwohl er permanent durch den Kakao gezogen wird, eine Brücke zwischen beiden Welten: So oft wie ich ähnliche Ressentiments von Mehrheitsdeutschen gehört habe, so sehr versteh ich woher viele seiner naiven Fragen kommen.

Als das Ensemble die Heimreise antritt und am Flughafen wartet, lässt jeder sein Schlusswort verlauten. Dejan stellt fest, dass „wir Jugos nicht miteinander können, aber auch nicht ohne einander.“ Jasmina und Mateja beantworten die Frage „Was ist Heimat?“ mit „Vielleicht ist Heimat der Ort, wo du ohne Angst die Augen schließen kannst.“ Aleksandar hingegen, der sowohl den deutschen als auch den serbischen Reisepass dabei hat, entscheidet sich, als Serbe nach Deutschland zurück zu fliegen. Es ist schön, dass beide Wege mit der Zerissenheit fertig zu werden, nebeneinander stehen können.

Niels liest derweil in einem Buch und verkündet, dass laut seiner Lektüre eines Tages Aliens auf der Erde landen werden, die den Nationalismus abschaffen. An der Stelle musste ich sehr grinsen, weil mich die Situationen an mehrheitsdeutsche Antifa-Macker erinnert hat, die auf meine Identitätskonflikte mit Theoriegebrabbel reagieren: Kroatien und Mazedonien seien doch schließlich Nationalstaaten und wenn ich doch anti-national drauf bin, warum stellt sich mir die Frage überhaupt, wo ich hingehöre? Für sie ist es einfach Nationalität zu dekonstruieren, denn ihre nationale Identität ist unmarkiert, sie werden dafür weder marginalisiert, noch müssen sie sie in Frage stellen. Genauso hilfreich wäre es mir von Aliens zu erzählen.

Das Stück hat mir durch den Common Ground, den ich zwischen den Biografien der Protagonist_innen und mir gespürt habe, nicht nur gezeigt, dass ich mit vielen Fragen nicht allein bin, es hat mir auch mir neuen Tatendrang gegeben: Ja, ich will diese verdammte Geschichte verstehen – von allen Perspektiven, die ich finde. Und ja – vielleicht, liebe Antifa-Macker, hol ich mir auch so nen verdammten Pass!