„Der Balkan ist mir zu kompliziert!“
Ich sage „Balkan“, meine Alman-Freund*innen sagen: „Das ist mir zu kompliziert!“ Frühmittelalterliche Geschichte oder „Game of Thrones“ ist ihnen jedoch nicht zu kompliziert. Woher kommt diese Abwehrhaltung?
Immer wieder, wenn ich bei mehrheitsdeutschen Freund*innen den Balkan erwähne, fuchteln diese mit den Armen und bedeuten mir, dass ihnen das Thema zu kompliziert sei. Manche von ihnen kennen mich seit vielen Jahren und können sich immer noch nicht merken, aus welchem dieser Länder „da unten“ ich denn komme. Das ist einfach ignorant.
Außerdem will ich ja gar keine geschichtswisssenschaftliche Analyse über die Balkankriege mit ihnen besprechen, sondern lediglich erwähnen, was mir gerade durch den Kopf geht… was man halt so unter Freund*innen macht. Vielleicht möchte ich nur sagen, dass ich mich gefreut habe, weil der türkische Supermarkt Ajvar hatte. Oder, dass ich heute Abend auf ein Konzert einer bosnischen Band gehe. Woher kommt also diese Abwehrhaltung?
Diese Abwehrhaltung kann ich so schwer nachvollziehen, weil es bei mir genau umgekehrt ist: Wenn ich feststelle, dass ich wenig über eine Region oder ein Land weiß, habe ich meist ein schlechtes Gewissen, weil ich offenbar zu wenig Allgemeinwissen habe. Dann werde ich neugierig und höre umso genauer zu. Geschichte und Geografie sind nicht easy, das ist klar. Aber warum jammert die gleiche Person, die in ihrer Freizeit über frühmittelalterliche Geschichte Westeuropas nerdet… oder alle Intrigen und Konflikte von „Game of Thrones“ versteht, wie furchtbar verwirrend Kosovo sei?
Meine These: Um nicht sagen zu müssen „Das interessiert mich nicht“. Denn, wenn’s objektiv zu kompliziert wäre, dann kann einem das fehlende Wissen niemand übel nehmen. Die Person will eine Region als zu kompliziert sehen, sie will gar nicht etwas anderes darüber hören. Mich nervt das, weil ich abweichende Interessen und Wissenslücken okay finde, während ich finde, dass die Abwehrhaltung „Das ist mir zu kompliziert“ jedes potentielle Gespräch zunichte macht.
Ein ähnliches Phänomen ist, wenn Menschen Länder oder Regionen als kulturarm abstempeln: „In Bulgarien gibt’s halt nix“. Wenn’s objektiv nix gäbe, kann einem das fehlende Wissen niemand übel nehmen. Gleichzeitig sehen viele Leute nicht wie die (Pop-)Kultur mancher Länder, zum Beispiel Japan, für den Westen exotisiert und/oder konsumierbar gemacht wird. Da sind sie dann plötzlich ganz Ohr und werden zu Weaboos. Wo der Konsum fehlt, kommt schnell der Vorwurf es gäbe dort keine interessante oder relevante Kultur, mit der man sich beschäftigen könnte.
Mein Tipp: Ersetzt das Gejammer über komplizierte oder „kulturarme“ Länder durch den Youtube-Channel GeographyNow. (Sofern ihr gut Englisch versteht.) Der Youtuber Paul Barbato (Barby) aus Los Angeles dreht zu jedem Land auf der Welt ein kurzes Einführungsvideo und man merkt, dass er seine Hausaufgaben macht. Ganz ehrlich: Ich fand die Politik Bosniens und Herzegowinas auch kompliziert, aber durch den Youtube-Channel habe ich ein paar der Grundlagen besser verstanden. Es sind kurze, unterhaltsame und humorvolle Videos – und definitiv kein schlechter Einstieg.
Ein weiterer Tipp: Gebt öfter zu, dass ihr keine Ahnung und/oder kein Interesse habt. Das ist ehrlich und damit kann ich arbeiten. Und vergesst nicht, dass Interesse und Desinteresse auch nicht im luftleeren Raum existieren.
Dieser Beitrag war ursprünglich ein Twitter-Thread, den ich für meinen Blog redigiert und in Teilen umgeschrieben sowie verlängert habe. Den Twitter-Thread findet ihr hier.