Warum der ESC mein postmigrantisch-queeres Weihnachten ist

Warum der ESC mein postmigrantisch-queeres Weihnachten ist

16. Mai 2020 0 Von Herzbrille

Oder: Meine Top 15 Balkan ESC-Songs gegen den Corona-Blues

Bild von ktphotography auf Pixabay

Heute hätte der 65. Eurovision Songcontest in Rotterdam stattgefunden. Die Alternativen sind nett, aber nicht das gleiche! Um meinen Mimimimodus zu mildern, habe ich meine Top 15 Balkan-ESC-Songs gesammelt und analysiert, warum mir dieses cheesy Fest so viel bedeutet. Kurze Antwort: Es gibt kein Event, das die volle Portion queeren Camp mit der vollen Portion Balkan-Schmalz so gut vereint!


Heute hätte der 65. Eurovision Songcontest in Rotterdam stattgefunden. Wie wir alle wissen wurde er im März von Corona gecancelt. Man müsste meinen, ich hätte zwei Monate Zeit für meinen Trauerprozess gehabt und käme wieder klar, aber Pustekuchen.

Ich stecke noch immer im Mimimimodus und weigere mich da wieder herauszukommen. Die Wohnzimmer-Konzerte, das Deutsche ESC-Finale und die Sendung Europe Shine A Light sind zwar ein netter Trost, aber sie bieten keine… oder zumindest nicht genug Windmaschinen, Pyrotechnik und Wallekleider und das ist einfach nicht das gleiche! Immerhin soll Peter Urban dabei sein. Vielleicht muss ich ja doch nicht ein ganzes Jahr auf seine fürchterliche Aussprache slawischer Namen verzichten?

„Du bist doch Grufti, wieso ESC?“ höre ich oft, genauso: „Du bist queer, klar magst du den ESC“, aber die Wahrheit ist: Ich mag den ESC nicht einfach, er ist mein postmigrantisch-queeres Weihnachten! Es ist die Zeit im Jahr, in der ich Wochen im voraus plane, was ich anziehe, was ich koche, mir Trinkspiele ausdenke, Wetten abschließe (Schweden 2018! Ginge es nach der Jury hätte ich gewonnen!), mit ESC-Trivia-Wissen angebe and all that Jazz. Wenn mir in der echten Weihnachtszeit die Festtagsstimmung fehlt, schmeiße ich schon mal meine ESC-Playlist an.

Es gibt kein Event, das die volle Portion queeren Camp mit der vollen Portion Balkan-Schmalz so gut vereint!

Wenn ich an den ESC denke, denke ich daran, wie ich im Schwuz beim Public Viewing den Lästerschwestern des Abends zuschaue und parallel über Messanger mit meiner Family steile Thesen zu den Balkan-Beiträgen austausche. Meine Alman-Friends haben plötzlich andere Assoziationen mit Ex-Jugoslawien als Ajvar und Krieg, wollen wissen wofür „FYROM“ steht und es macht Spaß ihnen zu erklären, warum dieser oder jener Song eine klassische Balkan-Ballade ist oder warum man das Lied streng genommen nur appreciaten kann, wenn man Jugo-Humor versteht und weiß, wer Rambo Amadeus eigentlich ist.

Ebenso ist es witzig mitzukriegen wie der queere Subtext an meiner Balkanfamilie fast komplett vorbeigeht, selbst wenn eine bisexuelle Butch den ESC gewinnt, eine ukrainische Trash-Queen ihn fast gewinnt oder ein rumänischer Tenor Geschlechternormen kaputt trällert. Gleichzeitig öffnet jemand wie Conchita Wurst das queere Fass in meiner Familie und es kommen Gespräche über LGBTI-Rechte und queere Sichtbarkeit zustande, die an anderen Tagen echt keinen Spaß machen würden… vom Glamour berauscht diskutiert es sich leichter!

Am ESC nehmen meist fünf bis sechs ex-jugoslawische Länder teil, außerdem Bulgarien und Albanien und viele andere osteuropäischen Länder, mit denen ich mich aufgrund des slawischen Backgrounds auf eine Art verbunden fühle. Das sind einfach ein Haufen Länder, die hierzulande kulturell unterrepräsentiert sind… vereint durch brennende Pianos und Oma-Chöre! Wenn man keinen Sport guckt, findet man so schnell keinen vergleichbaren Firlefanz.

Der ESC ist eine Konstante in meinem Leben. Ich erinnere mich, wie ich als Kind ins Bett musste bevor der Gewinner feststand und heimlich an der Wohnzimmertür lauschte, um was von der Punktevergabe mitzukriegen. Oder wie ich mit 9 Jahren das Konzept „Töne treffen“ noch nicht so wirklich verstand und die mazedonische Girlgroup XXL voll Herzblut und gegen den Rest der Welt anfeuerte. Mit 14 fand ich Popmusik grundsätzlich schlimm, stimmte aus Protest für Lordi ab und feierte umso mehr als sie gewannen.

Der ESC war ein Bonding-Element als mazedonische Dorfkids wollten, dass ich Stefan Raabs „Wadde Hadde Dude Da“ übersetze (und mir nicht glauben wollten, dass das nicht so einfach geht) oder als ich erklären musste, was die janze Schose mit dem deutschen Countrysong oder dem Mangamädchen soll… generell musste ich Jugos öfter erklären, was sich die Deutschen da eigentlich gedacht haben. Über deutsche ESC-Songs ablästern verbindet!

Ehe mir einer die Verherrlichung vorwirft: Man kann natürlich ellenlang ausführen, was am ESC scheinheilig ist, inwiefern das queere Abfeiern des ESCs Homonationalismus fördert und wie inkonsequent deren Richtlinien zu politischen Inhalten oder Flaggen sind. Aber 1. können das andere besser und 2. können wir das im nächsten Jahr machen, wenn es hoffentlich wieder einen richtigen ESC gibt.

Dieses Jahr möchte ich meinem Favori Problématique in vollen, nostalgischen Zügen frönen. Und das tue ich am liebsten mit ESC-Songs! Weil außerdem beim Deutschen ESC-Finale nur ein Balkanland dabei ist, nämlich Bulgarien mit Victoria’s Song „Tears Getting Sober“, muss ich mein Möglichstes tun den ESC 2020 zu balkanisieren.

Deswegen präsentiere ich euch meine Top 15 Balkan-ESC-Songs. Macht euch bereit für bedeutungsschwere Balladen, bombastischen Balkanpop, Glitter, Glamour und große Gefühle.


Meine Top 15 Balkan ESC-Songs

15. Laka – Pokušaj | 2008: Bosnien & Herzegowina, 10. Platz

Ich dachte mir, ich beginne diese Liste mit ein bisschen Weirdness, um alle vom Gegenteil zu überzeugen, die bei Balkan-ESC-Songs nur Folkpop erwarten. Die Lyrics sind mindestens so seltsam wie die Performance, bei der Indie-Sänger Elvir Laković Laka aus einem Wäschekorb steigt, seine Schwester Mirela im clownesken Outfit Wäsche aufhängt und Bräute im Hintergrund stricken. Der Song pendelt irgendwo zwischen ESC-Parodie und Liebeserklärung ans Verliebtsein, während der nasale Gesang dem Pop-Rock-Stück einen Hauch Punk verleiht.


14. Sestre – Samo Ljubezen | 2002: Slowenien, 13. Platz

Ich kann mich erinnern die Reisebegleiterinnen in roten Glitzerkleidern gesehen zu haben, nur war mir mit 11 Jahren noch nicht klar, wie brisant dieser Auftritt war. Sestre (zu deutsch „Schwestern“) waren die erste reine Drag-Performance-Gruppe beim ESC und der erste offen queere Beitrag eines ex-jugoslawischen Landes. In Slowenien hatte der Auftritt einen homofeindlichen Backlash ausgelöst, der wiederum eine Debatte um Menschenrechte und EU-Beitrittschancen im slowenischen und europäischen Parlament los trat. Der eingängige Partysong landete nur auf einem der hinteren Plätzen. Der mutige Auftritt war definitiv seiner Zeit voraus und sollte als queerer ESC-Klassiker nicht in Vergessenheit geraten!


13. Bojana Stamenov – Beauty Never Lies | 2015: Serbien, 10. Platz

Wenn ein ESC-Song die Bezeichnung „underrated“ verdient hätte, dann „Beauty Never Lies“! Zugegeben, die Konkurrenz war im Jahr 2015 sehr stark: Viele meiner ESC-Favorites wie der Gewinnersong „Heroes“ oder der belgische Beitrag „Rhythm Inside“ sind aus diesem Jahr. Dennoch hätte ich Bojana Stamenov mit ihrer kraftvollen Stimme, glamourösen Performance und empowernden Botschaft eine höhere Platzierung gegönnt.


12. Doris Dragović – Marija Magdalena | 1999: Kroatien, 4. Platz

„Marija Magdalena“ bietet genau die richtige Mischung aus Theatralik und Tanzbarkeit, eine charismatische Performance, starke Stimme und alles, was wir, oder zumindest einige von uns, an 90er Dance-Pop lieben. Der Song war einer der erfolgreichsten ESC-Beiträge Kroatiens. Bereits 1986 war Doris Dragović angetreten, damals noch für Jugoslawien, und hatte den 11. Platz belegt.


11. Elena Paparizou – My Number One | 2005: Griechenland, 1. Platz

Als ich damals den Auftritt der charismatischen Elena Paparizou sah, wusste ich sofort: Dieser Song ist Gewinnermaterial! In einem mazedonischen Haushalt kriegt man für zu viel Sympathie mit Griechenland schon mal eine hochgezogene Augenbraue. Deswegen erledigte ich mein Telefonvoting schon fast heimlich. Das war eigentlich unnötig, denn selbst mein Vater musste zugeben, dass der Song und die Performance erste Klasse waren. Besser kann man Pop mit Balkan-Folk-Elementen eigentlich kaum kombinieren.


10. Tajči – Hajde Da Ludujemo | 1990: Jugoslawien, 7. Platz

„Hajde da Ludujemo“ war vor meiner Zeit und ist einer dieser Songs, die ich gefühlt schon immer kannte, ohne zu wissen woher. Erst durch die Recherche für diesen Artikel wurde mir klar, dass er ein ESC-Beitrag war. Tajčis Marilyn-Monroe-mäßige Performance und süße Stimme sind ziemlich charmant und der Song selbst ist ein hartnäckiger Ohrwurm und Gute-Laune-Hit.


9. Milan Stanković – Ovo Je Balkan | 2010: Serbien, 13. Platz

Nein, ich weiß auch nicht, wer den Haarschnitt verbrochen hat. Ich weiß nur: dieser Folkpop ist verdammt catchy und so etwas wie eine Diaspora-Hymne! Beim ESC 2010 hat „Ovo je Balkan“ (zu deutsch: „Das ist der Balkan“) nur Platz 13 erreicht, aber er ist alles andere als vergessen. Ob Klub Balkanska, Gayhane im SO36 oder die herkömmliche Jugo-Party nach dem Erreichen eines gewissen Pegels, „Ovo je Balkan“ passt immer rein, wenn ein paar Blechbläser und frech-flirty Lyrics für Stimmung sorgen müssen. Der Song stammt aus der Feder Goran Bregovićs und was auch immer man von ihm halten mag, es wundert mich kein bisschen, dass er diesen Hit zu verantworten hat. Ich werde niemals nicht zu „Ovo je Balkan“ mitgrölen können!


8. Toše Proeski – Life | 2004: (FYR) Mazedonien, 14. Platz

Die Geschichte von Toše Proeski ist eine ziemlich traurige. Der Sänger, der in Mazedonien der aromunischen Minderheit angehörte, war nicht nur ein
Popstar, er war ein Megastar in der ganzen Balkan-Region. Im Oktober 2007 ist er bei einem Autounfall ums Leben gekommen – am Höhepunkt seiner Karriere, kurz bevor er international durchstarten wollte. Der Auftritt beim ESC 2004 zählt zu seinen wichtigste Meilensteinen. Obwohl ich den Song gelungen finde, teile ich die Meinung vieler, dass sein Gesangstalent darin nicht optimal zur Geltung kommt, verglichen mit anderen Stücken.


7. Riva – Rock me | 1989: Jugoslawien, 1. Platz

„Rock me“ war Jugoslawiens einziger Sieg beim ESC. Ehrlich gesagt, habe ich erst davon erfahren, als ich irgendwann ein „All winners of Eurovision“ Youtube-Video angeschaut hab. Obwohl „Rock me“ ein ziemlich cooler New-Wave-Song ist, Platz 1 erreicht und Jugo-Rock als Genre international bekannt gemacht hat, wird er ziemlich selten erwähnt, wenn es um die ESC-Geschichte geht. Schade, eigentlich.


6. Poli Genova – If Love Was A Crime | 2016: Bulgarien, 4. Platz

In keinem Jahr hatte ich einen so klaren Favoriten wie 2016! Meine Sis und ich sind sogar in ähnlichen Outfits wie Poli Genovas Bühnenkostüm zum Public Viewing gegangen. „If Love Was A Crime“ ist tanzbar, catchy, positiv und mit einer Message, die mehr explizit als implizit queer ist. Außerdem ist die Leichtigkeit, die Poli Genova in ihrer Performance vermittelt, einfach ansteckend!


5. Kristian Kostov – Beautiful Mess | 2017: Bulgarien, 2. Platz

Ich bin immer noch beleidigt, dass Kristian Kostov nicht gewonnen hab. Nix gegen den portugiesischen Beitrag, aber doch was gegen den portugiesischen Beitrag: Der Song war sicherlich gut und so, doch ist die ganze Nummer ziemlich pretentious, wenn man mich fragt. Kristian Kostov hat mit seiner warmen Stimme eine Ballade von zeitloser Schönheit abgeliefert, die ich noch Wochen nach dem ESC auf Repeat gehört habe. „Beautiful Mess“ ist einer meiner All-Time-Favorites!


4. Željko Joksimović – Lane Moje | 2004: Serbien & Montenegro, 2. Platz

Das, liebe Almans, ist eine klassische Balkan-Folk-Ballade. Und zwar eine, die nicht nur südosteuropäische Ohren glücklich gemacht hat, denn 2004 ist sie auf dem Siegertreppchen gelandet. Melancholisch, romantisch, leidenschaftlich… mehr braucht man nicht zu wissen – die Musik spricht für sich.


3. Tamara Todevska – Proud | 2019: Nordmazedonien, 7. Platz

2019 war das Jahr, in dem Mazedonien, pardon, Nordmazedonien beinahe eine Chance auf den Sieg gehabt hat. Bei den Votings schauten sich meine Schwester und ich ungläubig an, denn nie hat ein mazedonischer Beitrag etwas ähnliches geschafft. Tamara Todevskas warme und kraftvolle Stimme verpasst mir jedes mal eine Gänsehaut, die feministische Botschaft obendrauf macht das Stück noch besser. „Proud“ hat die meisten Jury-Votes abgesahnt, am Ende hat es allerdings „nur“ für Platz 7 gereicht. Kleiner Funfact am Rande: Bei der allerersten Pride Parade in Skopje war Tamara Todevska auch dabei und hat den Song performt.


2. Hari Mata Hari – Lejla | 2006: Bosnien & Herzegowina, 3. Platz

Ja, liebe Almans, auch das ist eine klassische Balkan-Ballade. Die Ähnlichkeit zu „Lane Moje“ ist kein Zufall, denn komponiert hat das Stück Željko Joksimović, der 2004 für Serbien & Montenegro den 2. Platz belegte. „Lejla“ ist meiner Ansicht nach jedoch der stärkere der beiden Songs. Er ist dynamischer und noch balkanischer: Die Gruppe Hari Mata Hari hat mehr Elemente des bosnischen Folk-Genres Sevdah eingebaut ohne dabei an Eingängigkeit zu verlieren.


Honorable Mentions


1. Dubioza Kolektiv – Eurosong | 2011: Bosnien & Herzegowina, 1. Platz

Wir erinnern uns an das Jahr 2011, als in Düsseldorf eine bosnische Punkband namens Dubioza Kolektiv den ESC gewann. Nein, es war nicht Aserbaidschan mit dem furchtbar durchschnittlichen Duett. This is what they want you to think! Dubiozas Auftritt war so brisant, so kontrovers, dass die Veranstalter*innen beschlossen haben den Auftritt aus dem kollektiven ESC-Gedächtnis zu löschen.

Spaß beiseite, der ironische „Eurosong“ mag nicht wirklich ein ESC-Beitrag sein, aber er gehört trotzdem in jede Balkan-ESC-Playlist. Dubioza kritisieren in ihrem Folkpunk-Track, wie marginalisierte Länder und Gruppen nur beim ESC europäisch genug sind und ein wenig mitspielen dürfen, während gleichzeitig in ganz Europa die politische Rechte an Macht gewinnt. Sie zitieren außerdem den italienischen Gewinnersong „Insieme“ von 1992 und geben ihm einen Twist: „Unite diaspora – unite Europe!“ Wenn das keine Diaspora-Hymne ist…


👑 1. Marija Šerifović – Molitva | 2007: Serbien, 1. Platz

Der wahre Sieger meiner Liste kann natürlich nur ein echter ESC-Beitrag sein und die Nummer 1 ist und bleibt für mich „Molitva“. Ich kann mich noch daran erinnern das Lied zum ersten mal gehört zu haben. Die Kinnlade fiel mir herunter und ich murmelte zu meiner Familie: „Leute, das ist großartig!“ Das Stück geht unter die Haut und ist so wunderbar ambivalent, gleichzeitig dramatisch und zerbrechlich, düster und hoffnungsvoll. Die sapphische Energie der Performance, Marija Šerifović ist übrigens bisexuell, sollte auch nicht unerwähnt bleiben. 😉 Marija, diesen Sieg hast du dir mehr als verdient!