Anxious Polys Unite!

Anxious Polys Unite!

28. Januar 2016 18 Von Herzbrille

Nicht wir Neurodivergenten, Eifersüchtigen und Unsicheren sind das Problem, sondern Poly-Ideale!

(c) Annamaria Balov

CONTENT WARNING: Polyamorie und Ableismus, Erwähnung von Selbsverletztendem Verhalten im Abschnitt „Psychische Erkrankung versus abusive Relationship?“


Immer wenn ich mich in Poly-Kreisen aufhalte oder einen Ratgeber für polyamoröse Beziehungen aufmache, merke ich, dass ich nicht gemeint bin. Mein Eindruck ist oft, dass Polyamorie wie sie dort besprochen wird, für Menschen gedacht ist, die selbstbewusst und emotional stabil sind und auf keinen Fall eine psychische Krankheit haben. Oft stoße ich auf das romantisierte Bild vom Hippie-Poly-Haufen, wo die Partner_innen immer perfekt kommunizieren können und Eifersucht durch die einschlägigen Techniken kein allzu belastendes Problem darstellt. Ich kann verstehen, warum dieses Bild verwendet wird: In einer Gesellschaft, in der polyamorösen Menschen von allen Seiten gesagt wird, dass das ja sowieso nicht funktionieren kann. sind positive Darstellungen sehr nötig. Nur leider nicht sehr hilfreich für diejenigen, die sich überhaupt nicht darin wiederfinden können. Im Gegenteil: Sie erzeugen Druck diesem Bild zu entsprechen, sowohl in Poly-Kreisen als auch in der Monowelt, die jede Unsicherheit als den Anfang vom Ende wahrnimmt.

Dieser Text ist für alle, die in nicht-monogamen Beziehungen leben, ob sie sich poly, halb-poly, mono_flexibel oder ganz anders labeln, die mit Depressionen und/oder Anxiety, auf deutsch Angsterkrankungen, zu kämpfen haben und/oder mit mehr Unsicherheiten und Eifersucht umgehen müssen als andere Polys.

Wenn ich das mal karikieren darf: Nach perfektem Poly-Normbild müsste jemand, der plötzlich sehr wütend oder eifersüchtig wird, drei mal tief durchatmen, dem Herzmenschen in gewaltfreier Kommunikation seine Gefühle mitteilen, ins Nebenzimmer gehen, ein Räuchestäbchen anzünden und drei mal selbstverantwortungsvoll in ein Kissen boxen. Anschließend eine geführte Selbstliebe-Meditation auf Youtube suchen. Ich weiß, ich weiß #NotAllPolys, doch ich bin nicht die einzige, für die sich die Friede-Freunde-Eierkuchen-Darstellungen und Ratschläge so anfühlen.

Das Ideal der Selbstverantwortung: Weg damit!

Was mir Poly-Kreise und Poly-Ratgeber vor allem beigebracht haben: Meine Unsicherheiten sind mein Problem. Als „richtiger“ Poly belaste ich meine Partner_innen möglichst wenig mit meinen Gefühlen und handle immer vernünftig. Was passiert wenn all die fancy Techniken, Ratschläge einfach nicht funktionieren? Dann bin ich wohl ein hoffnungsloser Fall. Ich bin aber trotzig und sage: Nö, dann passt etwas nicht an dem Konzept der Selbstverantwortung.

Das Ideal der Selbstverantwortung kotzt mich an, weil es Menschen lediglich als Individuen denkt und nicht als soziale, bedürftige, abhängige Wesen innerhalb von Beziehungsgeflechten. „Das ist IHR Leben! Misch dich da nicht ein!“ riet mir mal ein superschlauer Polymacker. Klingt erst mal logisch: Selbstbestimmung und so. Aber ich führe mit meiner Freundin kein klar voneinander getrenntes, unabhängiges Leben, sondern – unter anderem, auch ein gemeinsames, in dem wir viele verschiedene Dinge aushandeln müssen. Wenn es in der einen Poly-Beziehung kriselt, reflektiert sich das oft auch in den anderen. Ich kann mich natürlich auf meine Selbstbestimmung berufen und meiner Herzperson sagen: „Jo, ich bin dann mal eben in Buxtehude, bis in einem Jahr oder so. Dass du traurig bist, ist jetzt aber echt dein Problem.“ Wahrscheinlich wird keiner, der kein Arschloch ist, einfach abhauen ohne vorher Grenzen, Bedürfnisse, Verbindlichkeiten ausgehandelt zu haben. Also warum ist Arschlochsein bei Polythemen okay?

Sicherlich ist es nützlich sich um die eigenen Bedürfnisse zu kümmern und das eigene Leben im Fokus zu haben, wenn eins das gerade kann. Aber ich halte es für eine Sackgasse einerseits von funktionierenden Beziehungsnetzwerken zu sprechen und andererseits eine Rhetorik der Selbstverantwortung zu fahren, die sich schnell nicht mehr von neoliberaler Selbstoptimierung unterscheidet. Wann haben wir angefangen unsere Eifersucht wegzuoptimieren und aufgehört für einander da zu sein? Und vor allem: Wer sich in einem depressiven Tief als Belastung für die ganze Welt sieht und alles auf die eigenen Schultern lädt, dem hat ein „deine Gefühle – dein Problem“ gerade noch gefehlt.

„Du musst dich selbst lieben, um andere lieben zu können!“

Ich hab mal einen alten Poly gefragt, was er gegen seine Eifersucht unternimmt. Dieser meinte: „Ich hab gemerkt, dass Eifersucht auf ein Problem mit meinem Selbstwertgefühl zurück zu führen ist. Deshalb kümmere ich mich einfach um mich und es wird besser. Wenn das funktioniert, ist das großartig. Dummerweise haben Depressionen und Angsterkrankungen den Ruf sich ziemlich doll aufs Selbstwertgefühl auszuwirken. Da kann Selfcare sehr nützlich sein, doch die Ergebnisse werden anders aussehen. Jeder hat schlechte Tage, doch wenn diese Tage zu Wochen oder Monaten werden, dann ist Eifersucht nicht einfach durch ein bisschen Selfcare zu bewältigen. Wenn sich Verlustängste in körperlichen Symptomen wie Schwindel, Zittern und Panikattacken äußern, ist der Kampf gegen ebendiese größer.

Selbstwertgefühl ist etwas, das scheinbar als Grundvoraussetzung gesehen wird, eine gesunde Beziehung zu führen. „Du musst dich selbst lieben, um andere lieben zu können!“ ist ein gut gemeinter Rat, der im Subtext ausdrückt: Wenn du dich z. B aufgrund einer Depression nicht selbst lieben kannst, ist deine Liebe eine Lüge. Ja, Depressionen wirken sich auf Beziehungen aus: Wenn ich kaum etwas fühle, dann hängt auch über der Liebe ein Grauschleier. Aber ich muss nicht Teil eines glücklichen, neurotypischen Hippie-Haufens sein, um liebevolle Beziehungen zu führen. Meine Depression und meine Anxiety machen mich nicht beziehungsunfähig oder weniger liebenswert.

Die Abwertung von Eifersucht

Einige Polys, die ich kenne, sind fleißig dabei Mononormativität zu analysieren und aufzuzeigen, wie Eifersucht als Liebesbeweis konstruiert wird. Wer hat noch nie den furchtbaren Satz gehört: „Wenn du nicht eifersüchtig bist, ist es keine Liebe“? Eifersucht ist in monogamen Beziehungen normalisiert. Es gibt aber in der Mainstreamgesellschaft gleichzeitig die Abwertung von eifersüchtigen Menschen, vorwiegend Frauen, was bei der Analyse gerne ausgelassen wird. Deutlich wird es z. B in weisen Worten wie „Ein wenig Eifersucht würzt den Braten, zu viel macht ihn ungenießbar“ oder auch in Rockstar-Biopics wie „Walk the Line“ und „Control“: Die eifersüchtigen Ehefrauen werden als langweilig, nervig und „hysterisch“ gezeichnet, die unabhängigen Künstlerinnen, die die Rockstars auf Tour kennenlernen, idealisiert. Es gibt durchaus das gesamtgesellschaftliche, sexistische Ideal der unkomplizierten Partnerin, die nie eifersüchtig ist… damit der Typ seine Ruhe hat. Dass sich dieses Idealbild übertragen auf alle Gender und Orientierungen in Poly-Kreise einschleicht, sollte verhindert werden, weswegen es in der Analyse von Eifersucht nicht fehlen darf! Da hängt ein Rattenschwanz dran, der aussagt: Nur unkomplizierte, unabhängige Menschen sind für Beziehungen attraktiv. Das stinkt auf so vielen Ebenen und ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die aufgrund von Marginalisierung, Traumata, psychischen Krankheiten, Behinderungen etc. nicht unkompliziert und/oder unabhängig sind/sein wollen.

Psychische Erkrankung versus abusive Relationship?

So wichtig wie ich es finde über toxische Dynamiken innerhalb von Beziehungen zu sprechen, so skeptisch bin ich, wenn konkretes Verhalten isoliert als abusive betrachtet wird. Zeig mir drei Typen, die erzählen, wie sehr sie von ihren Ex-Freundinnen mit Borderline Syndrom manipuliert wurden und ich zeig dir mindestens einen, der seinen Ableismus und Sexismus nicht reflektiert.

Natürlich können Partner_innen mit psychischen Erkrankungen abusive sein, doch wenn ebendiese unter Generalverdacht stehen, kann etwas nicht stimmen. Unkontrollierte Wut- und Eifersuchtsausbrüche werden gern als kindisch, unvernünftig und im schlimmsten Fall Manipulation interpretiert. Es erscheint Menschen logischer, dass jemand, vor allem eine Frau, bewusst „eine Show abzieht“, als dass die Person gerade einfach nicht klarkommt. Wenn die gleiche Logik auf z. B Panikattacken angewandt wird, wird es gruselig. Wer schon mal eine hatte, wird seinem schlimmsten Feind so etwas nicht wünschen, geschweige denn eine vortäuschen.

Ein anderes Beispiel wird oft als Anzeichen für abusive Beziehungen genommen: Selbstverletzendes Verhalten (SV). Während bei einer Drohung wie „Wenn du das machst, verletze ich mich selbst“ zurecht die Alarmglocken losgehen, ist es sehr ableistisch SV mit Abuse gleichzusetzen. Die betroffene Person weiß am besten, was das Verhalten bedeutet, oft ist es eine Coping-Strategie. Bevor also davon ausgegangen wird, dass damit manipuliert werden soll, wäre es schlauer darüber zu reden, was es tatsächlich bedeutet und wie damit umgegangen werden kann. Ich weiß, dass das ein schwieriges, heikles Thema ist, zu dem es noch viel zu sagen gibt. Mein Punkt ist: Ich wünsche mir einen mutigeren Ansatz über toxische Dynamiken innerhalb von Beziehungen zu sprechen, der Ableismus nicht ausklammert.

Zwischen Selbsthilfe und Self-Gaslighting

Gaslighting ist eine Abuse-Strategie, bei der jemand die Wahrnehmungen und Gefühle einer Person leugnet, verdreht, verändert, sodass die Person anfängt an ihrer Realität zu zweifeln. Seit kurzem weiß ich, dass es möglich ist sich selbst zu gaslighten. Als jemand, die in der Kindheit und in vergangenen Beziehungen oft Gaslighting erlebt hat, kann ich leicht in alte Denkmuster verfallen und meine eigenen Wahrnehmungen und Gefühle manipulieren.

So habe ich angefangen all meine Probleme mit Polyamorie in der Praxis auf meine Depression zu schieben: Ich bin nicht wirklich eifersüchtig, ich bin bloß depressiv. Ich will diese Beziehung so leben, ich fühl das gerade bloß nicht, weil ich depressiv bin. Bevor ich mir erlaubt habe ein Gefühl zu fühlen, habe ich mich bereits dafür verurteilt und es beiseite geschoben. Und die Techniken gegen Eifersucht – sei es z. B die beliebte Krake, wo eins analysieren soll welches Gefühl hinter der Eifersucht steckt, spielte da sehr gut rein: Bevor ich das Gefühl fühlen und akzeptieren konnte, habe ich es analysiert und mir meine Wahrnehmung ausgeredet: Das ist ja eigentlich XY, ich bin bloß überempfindlich. Das habe ich solange gemacht, bis ich überhaupt nicht mehr wusste, was ich fühle/nicht fühle, will/nicht will, was meine „authentischen“ Gedanken waren usw. Mir ist klar, dass hinter der Krake eine gute Idee steckt, die anscheinend für viele funktioniert.

Doch bevor mir die Krake und Co. helfen können, brauche ich ganz andere Affirmationen: Deine Gefühle sind legitim, du darfst fühlen, was du fühlst, du darfst deiner Wahrnehmung trauen, du darfst verletzt sein, es ist in Ordnung von Veränderungen überwältigt zu sein. Bevor ein Tool für Arbeit mit Emotionen gefeiert wird, sollte klar gemacht werden, dass nicht alle Menschen die gleichen emotionalen und mentalen Kapazitäten mitbringen, bedingt durch psychische Krankheiten, Traumata, Abuse-Erfahrung und… weil Leute eben nicht alle gleich gestrickt sind.

Ich will nicht das Gefühl haben das Scheitern an irgendwelchen fancy Techniken sei meine eigene Schuld. Die Technik ist nicht universell. Sich diese Arbeit aufzubürden sollte ebenfalls nicht als Voraussetzung oder eine Art Poly-Eintrittskarte gehandhabt werden.

Und nun?

Ich habe hier einige Themen angerissen, die ich als unterrepräsentiert empfinde – die können und sollen noch weiter vertieft und mit weiteren Perspektiven, vor allem bezogen auf psychische Erkrankungen, angereichert werden. Deswegen freue ich mich über Kommentare und plane bald in Berlin einen „etwas anderen Polystammtisch“ zu gründen mit dem Titel „Anxious Polys Unite!“ – für Polys, Vielleicht-Polys, Doch-nicht-Polys, gescheiterte Polys, Mono-Polys, Monoflexible und alle, die bei anderen Poly-Stammtischen ihr Augenrollen unterdrücken müssen.

Wahrscheinlich wird er eine Mischung aus gemütlichem Zusammensitzen, Selbsthilfegruppe und Diskussionsrunde. Wenn sich (nicht nur auf dem Stammtisch) genug Leute finden, die eigene Texte zu diesen und ähnlichen Themen teilen wollen, würde ich anstreben ein Zine herauszubringen. Vielleicht ergeben sich auch andere Dinge: Gruppenblogs? Veranstaltungen? Podcasts? Ein alternativer Poly-Ratgeber? Bevor ich ins Träumen verfalle: Ich freue mich über spannende Diskussionsansätze und über alle Synergien, die entstehen können! Mehr Infos gibt’s bald hier. 🙂


Lesetipps

Hier einige Texte über die Überschneidung von Polyamorie mit psychischen Krankheiten und kritische Perspektiven auf den Umgang mit Unsicherheiten und Eifersucht:


FAQ: Gibt es den „Anxious Polyams Unite“-Stammtisch noch?

Leider nein. Seit der Corona-Pandemie habe ich nicht mehr die Zeit und Energie gefunden, das monatliche Meet-up fortzuführen. Es gibt jedoch noch einen aktiven Discord-Server.