Eurovision Review: Von Rückgrat, starken Stimmen und Folk-Hymnen
Die Ukraine hat am Samstag den 66. Eurovision Song Contest mit dem Motto „The Sound of Beauty“ in Turin gewonnen. Hier sind meine Tops und Flops. Außerdem: Der Sieg von „Stefania“ hatte nicht nur mit Solidarität zu tun!
Folklore Rock’n’Roll!
Jedes Jahr, pünktlich zur Verkündung der Gewinner*innen des Eurovision Song Contest, geht’s wieder los: Wahlweise wird der Jury oder dem Publikum die Schuld an allem gegeben, und überdem sei der Wettbewerb eh zu einer reinen Politik-Show verkommen. Diese Argumente sind so ausgelutscht wie langweilig. Beim ESC beeinflussten schon immer politische Aspekte das Endergebnis. Auch Conchita Wursts Sieg im Jahr 2014 lässt sich als politisches Statement lesen – gefeiert haben wir Queers es trotzdem… oder auch deswegen.
Dieses Jahr ist also das Publikum böse. Die Ukraine sei nur aus Solidarität gewählt worden. Selbst wenn, sehe ich nicht, was daran schlimm sein soll. Aber wer meint, das Kalush Orchestra hätte vor dem Krieg mit „Stefania“ keine guten Chancen gehabt, hat nicht aufgepasst. Ich würde nicht so weit gehen, um von einem Gewinner-Song zu sprechen. Dafür versucht der Beitrag zu sehr, alles auf einmal zu sein: Folk, Pop, Rap mit Breakdance und einer Art pinkem Lampenschirm als Fashion-Statement. Doch das, was „Stefania“ toll macht, ist der ohrwurmartige Folkpop und der gehört zum ESC wie die Windmaschine und das Wallekleid. Man braucht sich nur anschauen, wer den zweiten Platz belegt hätte, wenn es nach dem Publikum gegangen wäre: Moldawiens Folklore Rock’n’Roll kam ähnlich blendend an wie der ukrainische Electro-Folk aus dem letzten Jahr, der ebenfalls die zweitmeisten Publikumsstimmen absahnte. Ukraines Sieg sollte also auch unabhängig vom politischen Faktor nicht überraschen.
Top: Serbien – schräge Nummer mit Köpfchen
Was wäre der ESC ohne seine ausgeflippten Darbietungen? Während Norwegen mit dem albernen Banana-Song zu meiner Überraschung nur auf Platz 10 von 25 landete und die (vorletzten) Gruft-Techno-Kelten aus Frankreich offenbar etwas zu weird für Europas Geschmack waren, konnte vor allem Serbien mit experimenteller Performance und minimalistischen Klängen punkten. Wer sich letzte Woche in der ESC-Bubble auf Social Media herumgetrieben hat, dürfte gemerkt haben, dass Sängerin Konstrakta eine große Fanbase hat. Zum Beispiel inszenierten auch die Drag Artists Miss Steak und Türkish Delight eine Hommage an den Song. „In Corpore Sano“ ist ein hartnäckiger Ohrwurm, der auf einem Schlag mit Selbstoptimierung, Körperidealen und dem serbischen Gesundheitssystem abrechnet: Intensiv, mutig, konfrontativ und aus meiner Sicht der cleverste Beitrag des Abends.
Kein gutes Jahr für Balladen
Dem gegenüber stehen die klassischen Balladen, die in diesem Jahr schlechter abschnitten. Weder das Gänsehaut-auslösende „Die Together“ aus Griechenland noch Italiens „Brividi“ (was tatsächlich Gänsehaut heißt) schafften es in die Top 5. Vor allem das italienische Duett von Mahmood und Blanco wurde viel gelobt, galt als Favorit und wurde während des Auftritts im Saal laut mitgesungen. Schade ist es vor allem um den australischen Beitrag, der nur auf dem 15. Platz landete und lediglich zwei Punkte bekam vom Publikum, das der Ukraine spektakuläre 439 Punkte gönnte. Alle Zutaten für einen Top-Song waren vorhanden: Starke Stimme, große Gefühle, ausgefallenes Outfit. Aber vielleicht wirkte Sänger Sheldon Riley, der die meiste Zeit des Songs hinter seiner Perlenmaske verborgen war, etwas zu kühl und unnahbar? Oder es war einfach kein Jahr für traurige Männermusik. Poppiges Genre-Bending aus Großbritannien, sexy Reggaeton aus Spanien und gefälliges Midtempo aus Schweden kamen dagegen besser an.
Flop: Finnland – Weg mit der Nullerjahre-Nostalgie
Über Deutschland oder die Schweiz sind andere genug hergezogen (zurecht). Mein persönlicher Flop waren The Rasmus. Letztes Jahr hatte Finnland schon mit „Dark Side“ einen weichgespülten Hybrid aus HIM und Linkin Park zum Eurovision geschickt und kam damit bis Platz 6. In diesem Jahr sollte die Nullerjahre-Nostalgie fortgesetzt werden, wofür die Dark-Rocker*innen The Rasmus aufgetaut wurden. Diese klingen heute genauso wie 2003, nur weniger catchy und wirkten am ESC-Abend vor allem fehl am Platz – nur leider nicht auf die gute Art wie einst Lordi. Schade.
Nach zwei Jahrzehnten im alljährlichen Strudel des Grand Prix Eurovision de la Chanson gefangen, war der ESC 2022 aus meiner Sicht eher Mittelfeld mit wenigen Ausreißern. Egal, noch 362 mal schlafen…
Dieser Artikel ist zuerst erschienen auf PINK.LIFE.