Ein Dienstag in Skopje (Kurzgeschichte)

Ein Dienstag in Skopje (Kurzgeschichte)

18. Dezember 2013 0 Von Herzbrille
Foto - Ein Dienstag in Skopje

Millenniumskreuz in Skopje, Bild: Paula Balov

An diesem Dienstag in Skopje fragt die Oma ihre Enkelin: Liebling, bist du hungrig? Und die Enkelin sagt: Nein, Oma, immer noch nicht. Dann hüpft die Oma zum Herd und sagt: Burek und der Bohneneintopf von gestern sind noch da, und die Enkelin sagt: Nein, Oma, ich habe keinen Hunger. Dann guckt die Oma in den Kühlschrank und sagt: Kakao oder Schokolade? Baklava? Kind, kannst doch wirklich nicht nichts essen! Und die Enkelin sagt: Doch, Oma, ich habe keinen Hunger.

An diesem Dienstag in Skopje gehen zwei Punks zu einem Parkprotest. Da wird es ein Festival geben, bei dem sie auftreten werden.
Aber bitte plapper keinen Politikkram mehr zwischen den Songs, sagt der mit den grünen Dreadlocks.
Es geht doch um Freiheit geht es, meint der Dickbebrillte und fummelt an seinem Piercing.
Eigentlich um den Bau dieser komischen Kirche da.
Der Dickbebrillte bleibt stehen, räuspert sich und schildert mit großen Gesten: Es geht um die Konservativen, die hunderte Hungrige beten schicken, anstatt mit der Summe die Sozialhilfe aufzubessern. Er geht weiter.
Hast ja Recht, aber lass das Politikzeug lieber zwischen den Zeilen.

Der Dickbebrillte schüttelt seinen rasierten Schädel und sagt: Bist’ n klassischer Mazedonier bist du. Glückwunsch, immer schön die Klappe halten, solang du in dein Brot beißen kannst.

An diesem Dienstag in Skopje kehren zwei Straßenfeger das Zentrum.
Nervig, sagt der mit dem Besen. Nachher dürfen wir auch noch den Park sauber machen. Blöde Demo!
Er entdeckt eine Pfandflasche und steckt sie hastig ein. Der mit der Müllschippe nickt und fragt: Schon gehört, was die hier bauen?
Nein, antwortet der andere.
Unsern Alexander!

Der eine leert die Müllschippe über den Plastiksack aus.
Schön, meint der andere. Er fegt einen neuen Haufen zusammen.
Ich weiß nicht, meint der eine. Vierzig Meter hoch!

Der andere lächelt: Ist ja Alexander, der Große. Er fischt Zigarettenstummel zwischen den Pflastersteinen hervor. Sein Kollege seufzt: Du kennst die Geschichte nicht! Er blickt sich um. Wenn er so groß wird wie das Haus da, spekuliert er, dann sieht der Mazedonier davor nur die Hufe seines Pferdes.
Weiß gar nicht, was du hast, sagt der andere.
Dann starren Generationen auf zu Hufen und stehen in ihren Schatten. Und die patriotische Heulsuse sagt: Schuld sind die Griechen, die Albaner, die Bulgaren alle – doch da ist ja der Alex, auf den ist man stolz! Dann verstummt er erregt und leert eine leere Müllschippe aus.
Der andere lässt den Besen fallen: Die Bulgaren erkennen unsere Sprache nicht an, die Serben die Kirche nicht, die Griechen den Namen nicht und die Albaner… ach, die wollen einfach Land. Bei Tito, da konnte uns keiner so leicht was. Der eine lässt die Müllschippe liegen und stellt sich dich vor den anderen.

Er spricht betont: Dann ruf im Kulturministerium an und sag, du hättest lieber einen vierzig Meter hohen Tito.
So war das doch gar nicht…, murmelt der andere und wendet sich von ihm ab.
Es herrscht Stille und jeder verrichtet seinen Job.
Aber hast du denn nie an Jugoslawien geglaubt?

An diesem Dienstag in Skopje füttert eine Frau ihren Vater. Babybrei mit zerbröselten Tabletten. Sie führt den Löffel an seinen Mund. Er lutscht und saugt und schluckt. Sie wischt seine Mundwinkel ab. Sein Blick ist leer, wie von einem Fisch – ohne Richtung. Sie hält ihm ein weiteres Häppchen hin. Er keucht, dann spricht er rau und schwach: Ich hasse die Griechen!
Ich weiß, sagt die Frau fast flüsternd und hält ihm den Brei vor die Nase, doch er spricht weiter: Gottverdammte Griechen!
Ich weiß, Papa, ich weiß. Er lechzt nach dem Löffel und öffnet den Mund. Er schluckt und dann sagt er: Ich war ein Kind. Für jedes Wort gab’s Prügel. Für jedes Wort auf Mazedonisch. Ich war doch ein Kind. Sie gaben mir sogar einen griechischen Namen.1
Ich weiß, Papa, sagt sie ungeduldig, du möchtest ihn nicht mal aussprechen. Sie hält ihm einen Löffel hin.

Wusstest du, ich bin Millionär, eigentlich? Millionen, mein Kind, Millionen. Ja, Papa, antwortet sie und verdreht die Augen. Jetzt iss!
Er isst und sagt weinerlich: Zwei Häuser hab ich geerbt. Und ein Grundstück. Dann wurden wir nach Polen gejagt.2
Alles gehört jetzt Griechen. Hörst du? Zwei Häuser.
Sie nickt und löffelt wieder. Er isst – schweigt endlich. Sie atmet aus und streichelt seine zittrige Hand. Nachdem er fertig ist, bindet sie sein Lätzchen ab und bringt den Teller in die Küche. Sie wischt sich die Tränen weg und kommt mit einem Glas Milch zurück. Weißt du, meine Mutter hat immer gehäkelt und einmal ein Kleidchen für meine kleine Schwester – mit der Sonne. Und  die Faschisten haben sie verhaftet – wegen der mazedonischen Sonne.
Er beginnt zu schluchzen. Sie setzt sich neben ihn und hält ihn im Arm, streichelt seinen Rücken. Er beginnt zu wimmern und zu jammern und legt sich auf ihren Schoß. Sie sagt: Es wird alles gut, ganz ruhig, Papa, ich bin ja bei dir. Es wird alles gut. Er schluchzt und schnieft und klagt und dann blickt er auf zu ihr mit roten, verweinten Augen. Sie lächelt ihn an.
Wer bist du, fragt er.

An diesem Dienstag in Skopje erzählt eine Enkelin ihrer Oma: Ich fühl mich eingesperrt und die Oma fragt: Liebling, hast du denn jetzt Hunger?
Die Enkelin sagt: Nein. Aber Kind, willst du den hungrig zu dem Festival im Park? Die Enkelin sagt: Ja, und dass sie nur Mazedonien und Serbien gesehen hat. Die Oma sagt, du warst doch bestimmt mal woanders: Sofia? Zagreb? Ljubljana? Und die Enkelin sagt: Nein, Oma, ohne Visum kommt man nicht mal da hin.
Dann fragt die Oma, ob sie den Schinken, den der Opa mitgebracht hat schon probiert und denn jetzt Hunger habe. Die Enkelin blickt verträumt aus dem Fenster. Ja, Oma. Verdammt großen Hunger.

1. Das Territorium Mazedonien wurde während der Balkankriege (1912/1913) zwischen Serbien, Bulgarien und Griechenland aufgeteilt. Zu Zeiten des 2.Weltkriegs war die mazedonische Sprache und Kultur in der Provinz Griechenlands verboten. Nach Kriegsende wurde die Provinz in Serbien Teil von Jugoslawien.

2. Im griechischen Bürgerkrieg (1946-49) wurde ein Kampf zwischen Monarchisten/Nationalisten und Sozialisten geführt, der damit endete, dass Mazedonier und jene Sozialisten, die die Unabhängigkeit Mazedoniens nicht ablehnten nach Polen abgeschoben wurden.


Diese Kurzgeschichte habe ich 2009 geschrieben. Aktuell (29. November 2013 – 26. Januar 2014) wird sie im „Prima Center Berlin“ als Teil der offenen Gruppenausstellung „DAS IST WALTER!“ präsentiert.