Die inspirierende Ambivalenz von „Disintegration“

Die inspirierende Ambivalenz von „Disintegration“

10. Juni 2020 0 Von Herzbrille
"Disintegration" in meinem CD-Regal.
„Disintegration“ hat einen besonderen Platz in meinem CD-Regal. Artwork von Parched Art.

Wenn es um „Disintegration“ geht, dem 8. Studioalbum von The Cure aus dem Jahr 1989, lassen die Superlative nicht lange auf sich warten. Viele Musikjournalist*innen und Cureheads betonen immer wieder, dass dieses Album The Cures Meisterwerk ist. Sicherlich, es gibt nicht wenige Fans, die darauf bestehen, dass „Pornography“ besser ist. Aber selbst die „Pornography“-Fraktion wird zugeben müssen, dass etwas an „Disintegration“ atemberaubend ist. Doch was ist es? Ich höre „Disintegration“ schon seit vielen Jahren und es fällt mir immer noch schwer die Magie in Worte zu fassen. Es scheint mir, als sei das Album selbst die Suche nach Worten, die Suche nach dem perfekten Moment, nach dem „Mehr“.

Ich war 14 als mir dieses Album in die Hände fiel. In der Bravo las ich, dass Gruftis The Cure hören. Und da ich mit 14 unbedingt ein Grufti sein wollte, suchte ich in der Stadtbibliothek nach CDs von The Cure. Ich fand nur eine CD – eine ziemlich zerfleddertes Exemplar vom „Disintegration“. Als ich zuhause den ersten Track „Plainsong“ abspielte, war ich überrascht mit welch emotionaler Wucht sich die Synth-Klanglandschaft in nur wenigen Sekunden aufbaute. Ich hatte keine Ahnung, wer The Cure sind, hatte wenig Ahnung von New Wave, Postpunk und generell von Musik aus den 80ern. Meine einzige Erwartung war, dass es düster sein würde. Doch diese Musik war nicht düster, sie war viel mehr als das. Die Atmosphäre empfand ich als sonderbar. Ich kannte nichts, das so ähnlich klang. Doch wie ungewöhnlich sie auch war, ich wusste, dass ich mehr davon brauchte. Es war das „Mehr“, das ich brauchte.

If only I could fill my heart with love.“

Womöglich würde man vermuten, dass mich die poppigeren Songs wie „Lovesong“ oder „Lullaby“ als erstes gepackt hätten. Doch es waren die hämmernden Drums und der bebende Bass von „Closedown“. Ich konnte zu wenig Englisch, um die Lyrics zu verstehen und doch zogen mich Robert Smiths Vocals, die Sehnsucht und das Klagen in seiner Stimme, in den Bann. Die Musik sagte alles – ich brauchte kein Englisch zu können. Mein Schulenglisch reichte wiederum, um die Lyrics von „Lovesong“ zu verstehen. Eine Zeile wie „Whenever I’m alone with you, you make me feel like I’m young again“ kann ich heute viel besser nachvollziehen. Doch schon damals faszinierte mich wie ein Liebeslied gleichzeitig voll Hoffnung und voll Traurigkeit sein konnte. Auf eine merkwürdige Weise schenkte mir das Trost und Mut.

Auch das nostalgische „Pictures of You“ hat einen tröstenden Effekt. „Last Dance“ ist ebenso nostalgisch, wenngleich auf die völlig gegenteilige Weise. Während „Pictures of You“ melancholisch, doch in erster Linie verträumt ist, geht es bei „Last Dance“ um die Erinnerung an eine verblühte Liebe und die Trauer, dass diese für immer verloren ist. Das ganze Album besteht aus Kontrasten dieser Art: „Lullaby“ ist einerseits charmant und catchy, andererseits ziemlich creepy. „Fascination Street“ schafft es gleichermaßen hedonistisch und tanzbar wie verzweifelt und bitter zu sein.

A touch so plain, so stale it kills.“

„Prayers for Rain“ ist das Klang gewordene Ausharren in der Hoffnungslosigkeit, mit schweren Drums und psychedelischen Gitarren. Es ist der düsterste Song auf dem Album und mein persönlicher Favorit. „Prayers for Rain“ wird abgelöst von „Same Deep Water As You“. Dieses Stück beginnt mit dem Klang von Regen, worauf wir im vorherigen Song gewartet haben. Es setzt das Thema der Hoffnungslosigkeit fort, doch sanfter und verletzlicher – ganz so als sei ein Hauch von Frieden an die Stelle der Hoffnungslosigkeit getreten.

Der Titeltrack „Disintegration“ ist ein Universum für sich. Das Tempo ist nach vorne treibend und vermittelt Optimismus, während die Lyrics das genaue Gegenteil ausdrücken und eine Abrechnung mit allem zu sein scheinen. Das Klagen in Robert Smiths Stimme verstärkt sich zunehmend ehe der Song mit einer schrillen Dissonanz endet.

Mit „Homesick“ widmet sich das Album wieder leiseren Klängen und zum ersten mal steht ein Klavier im Mittelpunkt, mit einer unsicheren, suchenden, fast resignierten Melodie. „Untitled“ ist der Epilog des Albums. In gewisser Weise fasst dieser Song zusammen, worum es bei „Disintegration“ geht: Das Lied, das nicht ein mal einen Titel hat und ein überraschend optimistisches Ende für ein so düsteres Album ist. Dieser Track, mit seiner einsamen Akkordeonmelodie, scheint selbst nicht ganz zu wissen, war er will und trotzdem ist jeder Ton genau richtig. „Untitled“ rundet das Gesamtkunstwerk perfekt ab.

And you finally found all your courage to let it all go.“

Die Zeit, in der ich „Disintegration“ entdeckte, war eine ziemlich schwierige für mich. Nicht nur, weil die Pubertät an sich schwierig ist, sondern auch, weil in dieser Zeit meine Tante gestorben ist. Meine Familie stand unter Schock. Der Hausfrieden hing am seidenen Faden und jeder in der Familie war eine tickende Zeitbombe. Hinzukam, dass meine Versetzung in die 9. Klasse gefährdet war. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass mir „Disintegration“ Kraft gegeben hat über mich selbst hinauszuwachsen und mit der Situation fertig zu werden. Das Album schöpft seine Kraft aus der Ambivalenz und ich musste lernen das gleiche zu tun.

Wenn ich etwas mit „Disintegration“ verbinde, dann persönliches Wachstum. Vor wenigen Jahren, als ich in einer Beziehungskrise steckte und an meinen eigenen polyamourösen Idealen scheiterte, erinnerte ich mich an „Disintegration“ und hörte das Album wieder verstärkt. Erneut lud mich die Musik dazu ein loszulassen, Akzeptanz für mich und meine Situation zu finden und aus der Unsicherheit neuen Mut und Kraft zu gewinnen.

Let’s move to the beat like we know that it’s over!“

Aber es ist nicht nur die Ambivalenz, die „Disintegration“ so großartig macht. Bemerkenswert ist wie „Disintegration“ die düsteren Momente von The Cure mit den poppigen verbindet und wie perfekt abgestimmt die Reihenfolge der Songs ist. Das Artwork illustriert diese Gegensätze und die zeitlose Schönheit. Egal wie oft ich dieses Album höre, ich finde jedes mal etwas neues darin und habe mich noch nie eine Sekunde lang gelangweilt.

Doch der entscheidende Grund, warum „Disintegration“ meiner Meinung nach ein Meisterwerk ist, ist die Zeitlosigkeit. Das Album hat mich tief berührt als ich 14 und sonst völlig andere Musik gewöhnt war. Und es berührt mich noch heute mit 28 – und 30 Jahre nach seiner Veröffentlichung. Während „Pornography“ in meinen Augen immer der Goth-Rock-Klassiker der Band sein wird – das Cure-Album, das dieses Genre entscheidend geprägt hat, ist „Disintegration“ das zeitloseste, einzigartigste und in sich stimmigste Album von The Cure. Und viel, viel mehr als ein Goth-Klassiker.


Links zu „Disintegration“ auf Youtube und auf Spotify.


Zum Schluss möchte ich die beste Cover-Version vom Titeltrack „Disintegration“ empfehlen, die ich je gehört habe. Die portugiesische Indie-Band :PAPERCUTZ fängt die Atmosphäre des Originaltracks prefekt ein, aber macht völlig neue Sachen damit. Im Laufe des Stücks werden die Vocals mehr und mehr verzerrt, sodass man wirklich den Eindruck gewinnt, dass alles auseinanderfällt.