Helen Memel, eine bisexuelle Ikone?
Helen Memel, die Protagonistin von Charlotte Roches Bestseller „Feuchtgebiete“, ist für viele ein Symbol für sexuelle Selbstbestimmung. Doch ein anderer Aspekt wird gern übersehen: Helen Memel befindet sich auf dem bisexuellen Spektrum.
Es sind über zehn Jahre vergangen seit der Veröffentlichung von „Feuchtgebiete“. Auch der Film ist schon sechs Jahre alt. Das Filmplakat hängt noch immer an meiner Wand. Helen Memel, die Protagonistin von Charlotte Roches Debütroman, ist immer noch einer meiner liebsten fiktionalen Charaktere. Neulich habe ich mich gefragt, warum mir diese Protagonistin und dieses Buch so in Erinnerungen geblieben sind. Das Buch habe ich damals nur gelesen, um mitreden zu können. Ich wollte mich auch über diese „provokante Schundliteratur“ aufregen, doch stattdessen wurde „Feuchtgebiete“ zu meinem Lieblingsroman.
In „Feuchtgebiete“ geht es um die 18-jährige Helen Memel, die – wenn sie gerade keine Avocados züchtet, über Sex nachdenkt, eine Kunst aus der Masturbation macht, experimentiert und fasziniert von Körperflüssigkeiten ist, insbesondere Menstruationsblut. Sex und Körperexperimente sind für sie Eskapismus und ein Weg mit ihrer familiären Situation klarzukommen. Helen Memel ist ein Scheidungskind und hat mit dieser Tatsache keinen Frieden gefunden. Als sie vom Rasieren eine Analfissur bekommt und im Krankenhaus landet, plant sie ihre Eltern zur gleichen Zeit ins Krankenhaus zu locken, in der Hoffnung, dass diese wieder zueinander finden. Für viele ist Helen Memel ein Symbol für weibliche, sexuelle Selbstbestimmung. Doch ein anderer Aspekt wird gern übersehen: Helen Memel befindet sich mit ihrem Begehren auf dem bisexuellen Spektrum.
I put the „bi“ in Feuchtgebiete
Helens Sexualpartner sind meistens Männer, doch in einer Szene ruft sie in einem Bordell an und fragt, ob sie denn auch als Frau ins Bordell kommen und Sex mit Frauen haben dürfe. Als ihre Frage bejaht wird, geht sie ins Bordell und schläft mit einer Sexarbeiterin. Der Reiz an dem Vorhaben war sicherlich, dass es für Frauen viel weniger normalisiert ist Sex zu kaufen. Doch sie hätte auch einen Callboy finden können. Helen Memel sucht also explizit nach dem sexuellen Kontakt zu einer anderen Frau.
Damit ist ihre Bisexualität zwar schon „bewiesen“, aber auch andere Aspekte sind interessant, wie Helens Beziehung zu ihrer besten Freundin Corinna. Um diese Beziehung besser fassen zu können, möchte ich auf das Konzept des homosozialen Kontinuums eingehen. Es geht auf die Gender-Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick zurück. Dieses Kontinuum beschreibt den Übergang von gleichgeschlechtlichen Handlungen und Beziehungen, die als platonisch gelten zu homoerotischen Handlungen und Beziehungen. Sedgwick hat hauptsächlich männliche Homosozialität analysiert und festgestellt, dass aufgrund von Schwulenfeindlichkeit und toxischer Maskulinität dieses Kontinuum für Männer durchbrochen ist. Nähe unter Männern wird viel schneller als homoerotisch wahrgenommen und bestraft. Für Frauen ist dieses Kontinuum fließender: Berührungen, Zärtlichkeiten usw. sind auch unter heterosexuellen Frauen viel akzeptierter. Helen und Corinna sind einerseits einfach beste Freundinnen, andererseits teilen sie auch Sexualität miteinander und stellen Quatsch an wie ihre Tampons zu tauschen. Im Film wird die Beziehung zwischen Helen und Corinna ausgebaut: Es sind Szenen zu sehen, in denen die beiden mit Menstruationsblut spielen und sogar knutschen.
Man könnte das natürlich einfach als eine ungewöhnliche Freundinnenschaft interpretieren. Daran ist nichts falsch. Aber mit dem homosozialen Kontinuum im Hinterkopf lässt sich diese Freundinnenschaft auch anders lesen – queer lesen. Im Laufe des Films wird Corinna schwanger und distanziert sich von Helen. Ich finde es interessant, dass Helen enttäuscht ist, weil sich ihre beste Freundin für ein Leben mit Mann und Kind entscheidet und nicht mehr für die sexuellen Albernheiten zu haben ist. Zwischen Helen und Corinna ist es nie romantisch – sie sind beste Freundinnen. Und doch ist ihre Beziehung sexuell ambivalent. Viele nicht-monosexuelle Menschen kennen ähnlich ambivalente Situationen aus ihrer Jugend: Zusammen als Gal Pals über die Jungs reden, in die man gerade verknallt ist und gleichzeitig die nächste Umarmung nicht abwarten können und unbedingt noch ein Foto von der Freundin haben wollen, bevor die Sommerferien vorbei sind und man sich nie wieder sieht… 😉
Charlotte Roches Romane und Bi-Erasure
Zieht man zum Vergleich die anderen Romane von Charlotte Roche heran, stellt man fest, dass auch dort die Protagonistinnen Sex mit Frauen haben. Bei „Schoßgebete“ geht die Hauptfigur Elizabeth mit ihrem Ehemann regelmäßig zu einer Sexarbeiterin. Bei „Mädchen für alles“ schläft die Protagonistin Chrissi mit ihrem Hausmädchen. Ich möchte Charlotte Roche keine Lorbeeren für bisexuelle Repräsentation geben, denn keine der Charaktere benutzt je das B-Wort. Dennoch finde ich es interessant, wie die Tatsache, dass sich all ihre Charaktere auf dem Bi-Spektrum befinden, unter den Radar fällt.
Die Frage, warum das so ist, ist leicht zu beantworten: Die Protagonistinnen sind mit Männern verheiratet und auch Helen datet am Ende des Romans Robin, den Krankenpfleger. Würde man Rezensent*innen nach der sexuellen Orientierung dieser Figuren fragen, würden die meisten vermutlich heterosexuell antworten. Es ist in einer bifeindlichen Welt wirklich nicht schwer die Protagonistinnen von Charlotte Roche als heterosexuell zu interpretieren: Helen Memel experimentiert nur herum, Elizabeth von „Schoßgebete“ geht nur ihrem Mann zuliebe zu der Sexarbeiterin und Chrissi von „Mädchen für alles“ will bloß wissen, wie weit ihr Hausmädchen gehen würde. Queere Medien können die Bücher daher schnell als irrelevant abtun. Doch das ist nichts anderes als Bi-Erasure.
Um zum homosozialen Kontinuum zurückzukehren: Es ist schön, dass Nähe unter Frauen gesellschaftlich akzeptierter ist. Allerdings wird die Queerness darin oft unsichtbar gemacht. Bisexuellen Frauen wird vorgeworfen in Wahrheit heterosexuell zu sein und Beziehungen unter Frauen werden weniger ernst genommen. Daher kommt es, dass ein weiblicher Charakter, der explizit Sex mit anderen Frauen hat, trotzdem als heterosexuell rezipiert wird.
Gute und schlechte Bisexuelle
Manchmal habe ich unter Bi-Aktivist*innen und Queerfeminist*innen den Eindruck, dass nur die Repräsentation von bisexuellen Charakteren begrüßt wird, die auf keinen Fall irgendein Klischee bedient und nicht einen Hauch von Heteronormativität reproduziert. Wenn die Charaktere weiblich sind, zählt die Bisexualität nur dann, wenn sie sich in romantischen Beziehungen mit Frauen befinden. Eine bisexuelle Frau, die mit einem Mann verheiratet ist, ab und zu Sex mit einer Frau hat und der Typ ist eventuell sogar dabei? Ganz böse, schließlich erinnert das an Männerfantasien mit zwei Frauen und das passt nicht in unsere queere Utopie!
Es scheint mir, als würden einige Queerfeminist*innen nur die sapphischsten aller Bi-Repräsentationen gutheißen, weil sie womöglich glauben für die anderen Formen von Bisexualität gäbe es bereits genügend Bilder. Die Sache ist allerdings die: KEINE Form der Bisexualität ist gut repräsentiert. Vielleicht sehen wir oft in Filmen zwei Frauen im Bett eines Rockstars, aber wann wird thematisiert, wie es den Frauen damit geht?
Charlotte Roches Charaktere sind bisexuell. Sie haben Präferenzen, nämlich Männer. Helen Memel experimentiert und ist promiskuitiv. Diese Form Bisexualität auszuleben mag dir nicht queer genug erscheinen oder sogar klischeehaft vorkommen, aber sie hat es verdient repräsentiert zu werden.
Helen ist wichtiger als ihre Boyfriends
Damit hab ich die Frage, warum mir Helen Memel so viel bedeutet, allerdings noch nicht beantwortet. Es war nicht primär die queere Lesart, die mich so fasziniert hat, sondern die Tatsache, dass es in dem Roman so zentral um Helens Sexualität, Fantasien und Experimente gehen darf. Das bildet einen starken Kontrast zu den Romanen, die sonst junge Frauen als Zielgruppe haben. Helens Boyfriends sind ziemlich unwichtig. Robin war halt gerade da und die ideale Projektionsfläche für Helen. Die anderen Sexualpartner*innen sind nicht wichtig wegen ihrer Beziehungen zu Helen, sondern wegen der Dinge, die Helen aus den erotischen Begegnungen zieht. Als ich 19 und gerade dabei war viele Aspekte meiner Sexualität zu entdecken, fand ich es erfrischend und amüsant eine junge Frau dabei zu begleiten, wie sie sich spielerisch und ohne Scham mit „untenrum vorne“ und „untenrum hinten“ beschäftigt, wie Charlotte Roche es ein mal formuliert hat. Ob all das ausreicht, um Helen Memel zu einer „bisexuellen Ikone“ zu erklären, weiß ich nicht. Für mich ist sie ein Symbol für sexuelle Freiheit und, dass sie auch noch bisexuell ist, feiere ich.
„Feuchtgebiete“ habe ich bereits in diesem Artikel rezensiert.