„Queer Balkan“ – Zwischen Orientalismus und Empowerment

„Queer Balkan“ – Zwischen Orientalismus und Empowerment

15. August 2021 0 Von Herzbrille
Carsten Stiller, 20220708-Rudolstadt-Festival-2022-Bozo-Vreco-5955, CC BY-SA 4.0

Ich habe mir die 3Sat-Doku „Queer Balkan“ angesehen. Obwohl sie ihre guten Momente hatte und spannende Künstler*innen und Aktivist*innen zu Wort kamen, bedient sie auch die üblichen Ressentiments gegen den Balkan und zeichnet die Region als rückwärtsgewandt und statisch.

Endlich öffnet sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen mehr für queere Themen. Die Dokumentation „Queer Balkan“ im 3Sat (in der Mediathek verfügbar bis zum bis 06.07.2023) stellt eine unterrepräsentierte Region und Community ins Zentrum. Selbst im deutschsprachigen Diskurs zu LGBTIQ*-Rechten in Osteuropa, bleibt der Balkan oft nur eine Randerwähnung.

Wolf-Christian Ulrich ändert das und beleuchtet in seinem Film die Situation für queere Menschen in Serbien, Bulgarien und Bosnien & Herzegowina. Lokale Aktivist*innen und Künstler*innen, „die als Role-Models den Wandel vorantreiben“, erzählen von ihren Kämpfen und Visionen. Als bisexuelle Person mit ex-jugoslawischen Wurzeln, wünsche ich mir schon sehr lange eine Doku mit einer solchen Prämisse. Gerade der Fokus auf Kunst und die Akteur*innen der lokalen LGBTIQ* Communitys, verspricht einen erfrischenden Blick auf die Region. Obwohl der Film vieles richtig macht, kommt er aber leider nicht ohne Klischees und verstaubte Bilder von Südosteuropa aus. Diese möchte ich – genauso wie die gelungenen Aspekte, beleuchten.

Orientalismus, Balkanismus und warum wir komplexe Narrative brauchen

Schwul*, lesbisch*, bi- oder transsexuell zu sein, ist immer noch gefährlich. Allein 2020 gab es mindestens drei homophob motivierte Morde. Noch nie gab es so viele Übergriffe gegen queere Menschen, während auch Denkmäler und Gedenktafeln für die Homosexuellen-Bewegung immer wieder Opfer von Vandalismus werden.

Es geht hier nicht um den Balkan – ich habe das Intro der Doku auf Deutschland umgemünzt. Die Umkehrung soll zeigen, was ich sehr häufig in der Berichterstattung über den Balkan bemerke: Sie ist durchdrungen von Pauschalaussagen und westlicher Imagination. Es ist sehr einfach Südosteuropa als rückständig zu zeichnen und im gleichen Atemzug die Lage für queere Menschen in Westeuropa besser darzustellen als sie ist. In der deutschen LGBTIQ* Community blicken wir oft auf den globalen Süden mit einer herabwürdigenden, rassistischen Haltung – die lokalen Communitys existieren in dieser Sichtweise nur als Horrorvisionen und Bestätigung dafür, „wie gut wir es hier haben“.

Der Theoretiker Edward Said beschrieb den pejorativen und exotisierenden Blick auf die arabische Welt als „Orientalismus“. Die Historikerin Maria Todorova prägte in Anlehnung daran den Begriff „Balkanismus“, der das westliche Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Balkan beschreibt. Primitivität und Konservatismus bestimmen unser Bild vom Balkan, das zum Teil in die Selbstwahrnehmung der Region übergegangen ist.

Anstatt die Diskriminierung von LGBTIQ* und die Kämpfe für Gleichstellung im Kontext politischer Entwicklungen und Umbrüche zu setzen, tappt auch „Queer Balkan“ in die Falle des Balkanismus. Beiläufig nennt der Film die „orthodoxe Kirche und ein ausgeprägtes Machotum“ als Ursache für Queerfeindlichkeit – verzichtet jedoch auf Kontextualisierung. Dass Faktoren wie Nationalismus, Patriarchat und Religion eng mit queerfeindlicher Unterdrückung verwoben sind, will nun niemand bestreiten. Allerdings lässt die Doku diese Strukturen statisch und eindimensional erscheinen.

Welche Geschichte erzählt ein Film, wenn er kurzerhand ein multireligiöses Land wie Bosnien & Herzegowina und einen urbanen, kulturellen Knotenpunkt wie Sarajevo, als rückwärtsgewandten Ort des Stillstands zeichnet, in dem „seit der Herrschaft der Osmanen vor allem der Islam regiert“? Ein essentialistisches Narrativ.

Während die Region hierzulande oft als „zu kompliziert“ gilt, wird ihr doch selten diese Komplexität auch zugestanden. Wir dürfen uns aber nicht von bequemen Narrativen verleiten lassen. Wenn wir den queeren Balkan stärken und nicht nur eine Projektion für unsere (vermeintliche) westliche Fortschrittlichkeit finden wollen, müssen wir auf differenzierte Narrative bestehen.

Empowerment – Vorbilder und Vorreiter*innen des queeren Wandels

Trotz allem ist „Queer Balkan“ weit davon entfernt eine Enttäuschung zu sein. Der Film ist am stärksten, wenn er nicht über den Balkan spricht, sondern seinen Akteur*innen die Bühne überlässt.

Der Doku gelingt es sich vom Defizitblick auf die südosteuropäische LGBTIQ* Community zu distanzieren: Sie porträtiert ihre Protagonist*innen nicht als passiv, sondern als handelnde Wesen, die auf vielfältige, kreative Weisen für die gesellschaftliche Akzeptanz kämpfen.

So kommt der bulgarische Popstar Azis zu Wort, der früher mit provokativen Drag-Performances und heute als „verletzliches Muskelpaket“ queere Sichtbarkeit in den Mainstream bringt. Er tritt als Vorbild für Queers und Rom*nija auf und unterstützt Kampagnen, die LGBTIQ* Jugendliche zum Coming-Out ermutigen. Der bosnische Sänger Božo Vrećo (Titelbild) bietet uns eine einzigartige Perspektive auf queere Balkan-Kultur: Er hat im Folk-Genre Sevdah ein spirituelles Zuhause gefunden, schöpft für seine Lieder aus lokalen Legenden und Mythen und macht die bosnische Musiktradition durch seine Präsenz queerer. Die Schriftstellerin Lejla Kalamujić gilt als eine der wichtigsten lesbischen* Stimmen Bosniens. Sie erzählt von ihrem Buch „Nennt mich Esteban“, das die Themen Depression, Trauer, Kriegstrauma literarisch mit queerer Liebe verwebt.

Auch der Ausflug in die bulgarische Drag-Geschichte der 90er Jahre ist spannend und wird von der Geschichte des Malers, Drag-Künstlers und DJs Yasen Zgurovski abgerundet. Dieser treibt in Sofia die „Renaissance“ der bulgarischen Drag-Kultur an und bereichert mit seinen Partys die Clublandschaft Sofias – nicht nur für die queere Szene. Ein Highlight der Doku ist der Abschnitt zur ersten Pride in Sarajevo, einem bedeutungsvollen Event: 2019 war ein Jahr des Aufbruchs für die queere Community im Balkan, nicht nur in Bosnien und Herzegowina. Auch in der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje fand 2019 erstmals ein CSD statt.

Fazit – Queering Balkan!

„Queer Balkan, das bedeutet für mich, dass es hier immer eine queere Kultur gab,“ sagt der bulgarische Philosoph Stanimir Panayotov im Film. „Wir müssen diese Kultur aber sichtbarer machen.“ Wolf-Christian Ulrich ist das in Teilen gelungen. Wenn wir noch einen Schritt weitergehen und es schaffen die queere Kultur des Balkans – mit all ihrer Ambivalenz und Komplexität, sichtbarer zu machen, so stärken wir nicht nur die südosteuropäische LGBTIQ* Community. Sondern queeren auch unseren westlichen Blick auf diese Region.

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Dieser Artikel ist zuerst erschienen auf PINK.LIFE.