Auf Spuren der Fantasie

Auf Spuren der Fantasie

15. April 2020 0 Von Herzbrille
Štrbovo Anfang der 90er. Ich bin das Kind in grün. Die Frau ist meine Oma. Bild: privat

In dem mazedonischen Dorf Štrbovo wurde die Fantasie lebendig: Als Kind dachte ich mir, zusammen mit meiner Schwester Ena, eine Fantasiewelt aus. Die jüngeren Dorfkinder glaubten an das „Königreich Bajamska“, die älteren wollten keine Spielverderber sein. Eines Tages zogen wir los das Portal nach Bajamska zu finden.


Štrbovo ist der Ort meiner Sommerferien: Ein Dorf von rund 190 Einwohnern in Mazedonien, am Prespasee, eingerahmt von Gebirgsketten und trockenen Landschaften. Ein schmaler Pfad durch Geröll und Gestrüpp führt zum See, wo einst ein Sandstrand war, der dem Meer Konkurrenz machen könnte. Heute ergießt sich das Wasser über das Feld, Gräser überwuchern die Oberfläche. Ein Traktor dient als Shuttle vom See bis nach Hause. Das dritte Gebäude vor dem Weg ist das Ferienhaus meiner Familie. Es hat schon einige Erbschaftsstreitigkeiten ertragen, Generationen kommen, aufwachsen und gehen sehen. Im Herzen des Hofs wacht der Wallnussbaum. Seine Äste überdachen das halbe Grundstück und schützen vor der Balkansonne.

Noch heute führt mich fast jeder Roman, den ich lese, auf die eine oder andere Weise zurück nach Štrbovo. Als ich Harry Potter las verwandelten sich die Äste des Wallnussbaums in peitschende Weidenranken und als sich Eddard Stark zum Gebet hinkniete, zeichneten sich Gesichtszüge in der Rinde ab. Vor dem verlassenen Lagerhaus, das womöglich noch immer der Treffpunkt der Dorfjugend ist, saß Momo mit ihrem milden Lächeln und hörte zu. Das Kreischen der Kinder und Knacken der Sonnenblumenkerne hallte im Amphitheater wider.
Es gibt einen Grund, weshalb Štrbovo für mich das Reich der Imagination ist: Hier wurde meine Geschichte lebendig – die Geschichte von Bajamska.

Štrbovo ist ein mazedonisches Dorf der Gemeinde Resen. Bild: privat

Meine große Schwester Ena kam herbeigerannt mit einem Papierfetzen in der Hand, das mysteriöser Weise irgendwo im Gebüsch aufgetaucht war. Sie war neun Jahre alt, vielleicht zehn. Ich demnach zwei Jahre jünger.
„Eine Nachricht aus Bajamska?“ erkundigte sich eins der Dorfkinder.
Ena hielt mir mit besorgtem Blick den Zettel hin. Nur wir beide verstanden die Botschaft im Krickelkrakel aus lateinischen und kyrillischen Buchstaben.
„Ja. Sie brauchen unsere Hilfe,“ verkündete ich. „Wir müssen das Portal nach Bajamska finden!“ Als sich um mich herum Stille ausbreitete, genoss ich die Früchte meines Werks: Die jüngeren Kinder glaubten an Bajamska, die älteren wollten keine Spielverderber sein.
„Aber wie wollen wir das anstellen?“ quiekte Jana, ein vierjähriges Mädchen.
„Was ist, wenn wir einem Monster begegnen?“ Kiki spuckte Schalen von Sonnenblumenkernen aus. Er war dabei gewesen, als Ena und ich Löcher in den Boden gruben, sie mit Wasser füllten und unsere Füße eintauchten, um Kontakt zu der Unterwelt Wihaurt aufzunehmen – dem Feind von Bajamska, bewohnt von fürchterlichen Ameisenmenschen.
„Wenn die Monster aus Wihaurt schon in Bajamska sind, haben wir keine Chance,“ bemerkte Miki, Kikis Bruder.
Plötzlich trieb eine Frau in Schwarz ein paar Kühe durch unsere Sitzung. Ich seufzte. Grüße und Smalltalk wurden ausgetauscht, Bajamska musste warten.

Am nächsten Tag schmierte uns meine Oma Brote und wickelte sie in Tücher. „Ihr geht auf eine wichtige Reise, das verstehe ich schon.“ Sie holte ihren Zeigefinger raus und hielt ihn Ena vors Gesicht: „Trotzdem seid ihr zuhause bevor es dunkel wird, verstanden?“ Vor dem Hofeingang warteten Mila, die in meinem Alter war und ihre vierjährige Schwester Jana. Mila verzog immer das Gesicht, wenn wir von Bajamska sprachen, doch sie hatte nichts Besseres zu tun. Jana hüpfte vor Aufregung wie ein Flummi.

In der Nacht zuvor träumte ich von einer gläsernen Treppe, die in Regenbogenfarben schimmerte, und zum Himmel hinauf führte. Als ich aufwachte, wusste ich, mir hatte Bajamska eine Vision vom Portal geschickt. Ena war dankbar für das Material. Sie begann schon vor dem Frühstück Briefe in Gebüschen zu finden und die Dorfkinder zu mobilisieren. Leider hatten nur Mila und Jana Zeit. Währenddessen ließ mich mein Traum nicht mehr los. Vielleicht hatte ich wirklich eine Vision, vielleicht versuchte mich Bajamska zu kontaktieren und war nicht bloß meiner Fantasie entsprungen?

Wir begannen unsere Reise und wanderten einen langen Feldweg entlang. Bald würden wir uns weiter vom Ferienhaus entfernen als je zuvor.
„Eine gläserne Treppe, also?“ Mila kaute demonstrativ ihren Kaugummi. Ich nickte.
„Aber diese Treppe könnte überall sein, wenn sie denn überhaupt existiert!“ Meine große Schwester wusste zum Glück wie mit Zweiflern umzugehen war: „Die Frage ist nicht, ob sie existiert, sondern ob wir sie auf den ersten Blick erkennen. Schließlich wollen die Bajamskarer nicht, dass jeder ihre Welt betritt.“
„Genau,“ sagte ich. „Haltet die Augen auf!“

Wir waren schon eine Stunde unterwegs und sahen immer noch nirgendwo eine gläserne Treppe, die in den Himmel führte. Müde setzten wir uns an den Wegesrand und packten unsere Brote aus. Nur Jana schien weiterhin energiegeladen zu sein. Langsam wurde ich unruhig. Mila würde nicht mehr lange mitspielen, wenn nicht bald was interessantes passierte. Außerdem hoffte ich insgeheim, dass wir wirklich etwas Großem auf der Spur waren.
Ein alter Bauer kam mit seinem Esel vorbei und grüßte uns. Ena sprang sofort auf und löcherte ihn mit Fragen: Ob er Treppen gesehen hätte, die in den Himmel führen – es ginge hier um Leben und Tod!
Der Mann zupfte nachdenklich an seinem Schnurrbart. Er musterte unsere Abenteurerinnengruppe eher er mit lächelnden Augen sprach: „Da drüben habe ich, glaube ich zumindest, Treppen gesehen, die in den Himmel führen.“ Er zeigte in die Richtung, aus der er gekommen war: „Folgt nur diesem Weg! Aber denkt dran – bevor es dunkel wird, geht ihr wieder nach hause!“

Štrbovo ist nur 3,2 Kilometer von der Grenze zum Ägäischen Mazedonien entfernt. Bild: privat

Mit neuem Mut und einem Lied auf den Lippen brachen wir auf. Einige Zeit später erreichten wir eine Weggabelung.
„Wohin jetzt, ihr Schlaumeier?“ Mila verschränkte die Arme und verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Ena lief auf und ab, schaute in alle Richtung und wühlte im Gestrüpp, auf der Suche nach Briefen. Ich wurde nervös und hoffte eine gläserne Treppe würde vor uns auftauchen.
Plötzlich hielt mir Jana einen Stein vor die Nase: „Ich habe eine Idee! Soll uns der Stein doch die Richtung zeigen!“
Dankbar nahm ich Janas Vorlage an: „Ja, und… Bajamska ist nämlich… mit der Natur… verbunden und deswegen kann uns der Stein die Richtung weisen!“
Jana stellte sich an die Weggabelung, streckte den Arm mit dem Stein aus und begann sich um sich selbst zu drehen. Als sie wieder stehen blieb, zeigte der Stein zu unserem Pech in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
„Ihr seid doch alle Lügnerinnen!“ platzte es aus Mila heraus.
„Das stimmt nicht,“ entgegnete ihr Ena.
„Ich hatte wirklich eine Vision,“ beteuerte ich. Mila wollte davon nichts hören, trotzdem versuchte Ena sie von der Echtheit Bajamskas zu überzeugen: „Bajamska ist ein uraltes Königreich, gebaut aus Diamanten und Gold, umgeben von magischen Wasserfällen. Und die Ameisenmenschen aus Wihaurt wollen es für sich!“
Während Ena auf Mila einredete, stellte ich fest, dass sich Bajamska nach jedem Erzählen ein wenig veränderte. Ich erinnerte mich daran, dass Wihaurt eigentlich nichts mit Ameisen zu tun hattte. Erst als Ena und ich Löcher in den Boden gruben und dabei Ameisen fanden, wurden die bösen Ameisenmenschen geboren. Ich verabschiedete mich von der Idee wirklich etwas Übernatürlichem auf der Spur zu sein und beschloss das zu tun, was ich am besten konnte.

„Schaut her,“ rief ich und zeigte auf einen kleinen Ameisenhaufen. Ena und Mila beendeten ihre Diskussion und eilten herbei. „Meinst du, wir sind zu spät?“ fragte Ena voll Pathos, während Mila anmerkte, das dies ein gewöhnlicher Ameisenhaufen sei.
Derweil quiekste es aus dem Gesträuch: „Ich hab was gefunden!“ Jana wedelte breit grinsend mit einem Zettel. Mila sah Ena nur mit hochgezogener Augenbraue an.
„Wann hätte ich bitte den Zettel dort hinlegen sollen? Das hättest du doch gemerkt! Das war ich nicht! Das ist eine Botschaft aus Bajamska!“
Als ich Jana den Brief endlich abnahm, bat ich um Stille und überbrachte die offizielle Nachricht aus dem bajamskarischen Königreich: „Das Portal ist geschlossen. Wihaurt ist euch zuvorgekommen. Es gibt noch einen anderen Weg nach Bajamska. Weitere Nachrichten folgen in Kürze. Bajamska zählt auf euch!“


Wir kamen vor Einbruch der Dunkelheit und in guter Stimmung zuhause an. Doch leider musste die Geschichte bald zuende gehen. Ena hatte ein paar Tage später den Fehler begangen einen Brief auf bedrucktem Kalenderpapier zu hinterlassen. Ausgerechnet Mila fand ihn und erzählte überall davon. Danach wollte niemand mehr an Bajamska glauben. Für mich lebt Bajamska in jedem Roman und in jeder Geschichte weiter, die von Kindern handelt, die sich ihre eigene Fantasiewelt ausdenken. Ich werde mich immer an die gläserne Treppe und an das uralte Königreich erinnern, gebaut aus Diamanten und Gold, das uns die Sommerferien in Štrbovo versüßt hat.